Gertrud Leutenegger: Panischer Frühling (Roman) |
Gertrud Leutenegger: Panischer Frühling |
Inhaltsangabe:Während am 15. April 2010 ein Großteil des europäischen Flugverkehrs wegen der vom isländischen Vulkan Eyjafjallajökull ausgestoßene Aschewolke eingestellt wird, flaniert eine nicht mehr ganz junge Schweizerin durch London. Sie wohnt für ein paar Monate im East End. Ihre Zeitung kauft sie im Bazar eines Bengalen, der ihr anvertraut, dass er im letzten Sommer auf Brautschau in Bangladesch gewesen sei und auch ein Mädchen gefunden habe. Aber ist es nicht seltsam, sagte er, und nun blickte er mich forschend an, dass dann alles daran scheitert, dass man nicht miteinander sprechen kann? Diese junge Frau und ich, wir hatten uns einfach nichts zu erzählen.
Aus der jüdischen Bäckerei neben dem Bazar duftet es nach frisch gebackenem Brot. In der Nähe befindet sich ein Laden, der zwei zittrigen alten Männern gehört, Zwillingen, die sich offenbar vor Kinderbanden fürchten. "Nur zwei Kinder auf einmal!", haben sie auf ein Pappschild im Türfenster geschrieben. In einem pakistanischen Esslokal, an dem die Frau vorbeikommt, wenn sie das Haus verlässt, steht ein kleines Fernsehgerät auf der Mikrowelle, und sie sieht auf dem Bildschirm Aufnahmen des Asche speienden Vulkans. Die eine Wangenseite, die anfänglich durch das volle Haar versteckt gewesen war, bot sich geschwollen und wie von Fäule befallen dar, als würde sie von innen her von einem Tier zerfressen. Wenn er lächelt, dann nur mit einer Gesichtshälfte, der andere Mundwinkel bleibt verzerrt. Der Mann sagt: "Ich erinnere mich an Sie." Er habe sie an einem seiner anderen Standorte schon einmal gesehen, behauptet er. In den nächsten Tagen geht sie in unregelmäßigen Abständen zur London Bridge, um ihn zu treffen. Immer dringender zog es mich zur London Bridge. Einmal, als die U-Bahn gesperrt wird, weil auf einer Tunnelbaustelle ein Feuer ausbrach, geht sie bei der Station Embankment nach oben und entdeckt ihn dort in der Nähe. Auf den Stufen zur schmalen Gartenanlage saß der junge Mann mit der Obdachlosenzeitung und hob die Hand. Verdutzt, ihn hier anzutreffen, und noch etwas atemlos sagte ich, heute wollte ich eine Zeitung kaufen! Der junge Mann wiegte den Kopf hin und her und zeigte auf den fest verschnürten Zeitungspacken neben ihm, zu spät! Aber was ist denn in der Underground los?
Kurz darauf klopft er einen aus der Ferne zu hörenden Rhythmus auf seine Knie. Das sei ein befreundeter Steeldrummer aus Jamaika, sagt er, steht auf und lädt sie ein, ihn zu begleiten. Über die Eisenbahnbrücke gegen sie zu dem Musiker, der mit den Händen arbeitet, weil ihm die Schlegel gestohlen wurden.
Der Onkel war unser Lebensbaum. Er, der Kinderlose, war in einem viel umfassenderen Sinn unser Stammvater, der uns alle freudig um sich scharte. Meine Schwester und ich waren seine Sommerkinder, unsere Cousins und Cousinen seine Winterkinder.
Die Mutter erzählte ihr einmal, wie sie als Kind im Nachbarhaus von einer jungen Frau im weißen Nachthemd erschreckt worden war. Sie hatte dann erfahren, dass die Tochter der Nachbarn verrückt geworden war, als sie die Nachricht vom Tod ihrer älteren Schwester bei der Versenkung der RMS Lusitania am 7. Mai 1915 erhalten hatte. Möglichst geräuschlos verließ ich die Fahnenkammer und versuchte, ungesehen in die unteren Stockwerke zu gelangen. Das Guckloch in der Fahnenkammer war deshalb so aufregend, weil das Tantenzimmer der bestgehütete Raum des Hauses war.
Als sie ihrer Mutter dann von der Entdeckung berichtete, erzählte diese ihr, dass die Tante einmal während des Aufenthalts einer Älplergesellschaft im Pfarrhof einen Fünfliber auf ihrem Bett gefunden habe. Jonathan hatte erst vor kurzem mitgeholfen, den Perückenladen einzurichten. Die Schwester seines Freundes lebte schon seit fünf Jahren in London, sie hatte sich alles an Essen und Kleidern abgespart, dazu noch eine Menge Geld geliehen, um dieses Geschäft zu eröffnen, das winzig war [...].
Mit einem Tritt schleudert Jonathans Freund die Trommel auf die Fußgängertrasse der Brücke. Blindlings musste ich jeden Tag einen neuen Verbindungsweg wählen. Und wer mich dabei lenkte, plötzlich ahnte ich es, das waren die Tiere. Die Frösche, der Aal, die Schleiereulen, älter als die Menschen, sie waren meine Vermittler auf den Irrgängen zwischen mir und Jonathan.
Einmal kam der Küster aufgeregt zu ihm und berichtete von einem Schnarchen, das er schon mehrmals vernahm, ohne den vermuteten Betrunkenen finden zu können. Der Onkel stieg daraufhin mit ihm und seiner Nichte auf einen der beiden Kirchtürme und zeigte ihnen dort zwei nistende Schleiereulen. Von ihnen stammten die Geräusche. "Nein, das wollte ich nicht hören, niemals wollte ich das wahrhaben! Warum erinnern Sie mich überhaupt daran?!"
Einige Tage lang sehen sie sich nicht. Es ist bereits Juni, als Jonathan erzählt, wie er seine Großmutter eines Tages im Lehnstuhl vorfand. Zunächst dachte er, dass sie eingenickt sei, aber dann fielen ihm die geöffneten, starr ins Leere blickenden Augen auf und er begriff, dass sie tot war. Schon von weitem entdeckte ich Jonathan, und kaum bei ihm angelangt, begann ich sofort, um möglichst von mir abzulenken und als hätten wir unser Gespräch erst vor einer Stunde unterbrochen, ihn nach der Schwester seines Freundes zu fragen. Jonathan lehnte sich an das Brückengeländer und gab keine Antwort. Er betrachtete mich, was er noch nie getan hatte, von oben bis unten.
Noch am selben Tag bekleckert sie das dunkelblaue Kleid versehentlich mit Erdbeerkonfitüre. Zu Hause versucht sie vergeblich, den Fleck zu entfernen. Am Ende bleibt ihr nichts anderes übrig, als das nur einmal getragene Kleid wegzuwerfen. Alles war weiß an dem Fahrrad, der Sattel, die Lenkstange, die Räder, die Pedeale, selbst die Kette und die Speichen! [...] Ich starrte das weiße Fahrrad an, ohne das Geringste zu begreifen. [...] Was nur wollte Jonathan mir sagen? Vom Verkäufer der Obdachlosenzeitung ist nichts zu sehen. Wenn ich die Augen schloss, sah ich das weißgestrichene Fahrrad, als wäre es auf meiner Netzhaut eingebrannt. Es ist Mittag, sagte ich mir, jetzt gehe ich zur London Bridge. Vielleicht ist das Fahrrad wie ein Spuk verschwunden. Und Jonathan winkt mir von weitem entgegen! Hatte ich ihn mit irgendetwas verstimmt? Aber er taucht nicht wieder auf. Und mit ihm sind auch die Erinnerungen verschwunden. Hatte denn nur die Aussicht, Jonathan zu sehen und ihm davon zu erzählen, allem Leben und Glanz verliehen? Selbst das Sommerhaus entglitt mir wieder ohne ihn. Am Morgen des letzten Frühlingstages steigt sie in einen Zug nach Penzance. |
Buchbesprechung:
Gertrud Leutenegger entwickelt in ihrem Roman "Panischer Frühling" keine Handlung im eigentlichen Sinn. Stattdessen lässt sie eine Ich-Erzählerin zu Wort kommen, die man wohl als ihr Alter Ego betrachten darf. Die Schweizerin flaniert
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2014
Gertrud Leutenegger: Gleich nach dem Gotthard kommt der Mailänder Dom |