Sándor Márai: Die Möwe (Roman) |
Sándor Márai: Die Möwe |
Inhaltsangabe:Budapest, 1941. Ein fünfundvierzig Jahre alter ungarischer Ministerialbeamte verfasst einen streng vertraulichen Bericht für den Minister. Etwas würde beginnen: Einige geschriebene Worte, in diesem Augenblick auf dem Papier noch nicht einmal getrocknet, würden zu leben beginnen. In den Druckereien würden die Rotationsmaschinen die Worte mit schwarzer Farbe drucken, im Radio würde eine künstlich erschüttert klingende Stimme die Sätze in die Welt hinausrufen, Millionen von Menschen würden die Worte lesen und hören und erblassen. (Seite 8) Während er darauf wartet, dass seine Sekretärin den Bericht getippt hat, sucht ihn eine zweiundzwanzig Jahre alte Finnin in seinem Büro auf, die seiner toten Geliebten zum Verwechseln ähnlich sieht. Die Frau hat schon einmal gelebt und ist gestorben. Oder bin ich verrückt geworden? Weiß ich, was ich sehe und denke? (Seite 24)
Ilona, so hieß die Geliebte, war die Tochter eines Apothekers und studierte Chemie. Eines Tages fragte sie ihren Liebhaber, ob er bereit sei, mit ihr zu
Beginnt nun alles wieder von vorn? Die Scham, die Schande, die Erniedrigung? (Seite 27) Die Finnin heißt Aino Laine; das bedeutet "einzige Welle". Ihr Elternhaus in Helsinki wurde bei einem Bombenangriff zerstört. Ihr Vater, ein finnischer Fischer, starb bald darauf, und ihre aus Schweden stammende Mutter heiratete ein zweites Mal. Aino Laine setzte sich nach Paris ab. Sie beherrscht mehrere Fremdsprachen, darunter auch Ungarisch. Nun sucht sie in Budapest eine Stelle als Lehrerin, und dazu benötigt sie ein Visum. Ja, die Möwen leben ganz offensichtlich mit großer Kraft, und sie fragen nicht lange, ob das Möwenleben ein Ziel hat. Aus fremden, fernen, eisigen Ländern sind sie in der Nacht gekommen, sind über Winter und Krieg hinweg geflogen, mit stummer Kraft, in der Unendlichkeit der Lüfte jenen Pfad erahnend, der sie in Gegenden mit etwas milderem Klima führt. (Seite 36f)
Der Beamte lädt Aino Laine für den Abend in die Oper "Ein Maskenball" von Giuseppe Verdi ein. Er wundert sich darüber, dass die Ehrenlogen leer bleiben, obwohl nur fünf oder sechs Menschen außer ihm wissen, was morgen los sein wird.
"Als du bei mir eingetreten bist, hätte ich lachen mögen. Ich hatte das Gefühl, die Mächte der Unterwelt erlaubten sich einen dummen Scherz mit uns, mit dir und mit mir. Du musst wissen, dass du schon bei mir gewesen bist."
Gegen halb ein Uhr nachts klingelt das Telefon, und er führt ein kurzes Gespräch. Aino Laine will gehen, aber er hält sie zurück. Während er sich in der Küche anschickt, Kaffee zu kochen, hört er sie in einer fremden Sprache flüstern. Wen hat sie mitten in der Nacht angerufen? Ist sie eine Geheimagentin? Du möchtest die Wahrheit wissen, du möchtest wissen, wer ich bin, was mein Plan und meine Aufgabe ist, wieso ich im Krieg durch die Länder reise, wie ich die Klinken der verschlossenen Türen finde, warum ich viele Sprachen spreche, was ich von dir will und was für mich bedeutet, was ich von dir erfahren kann? All das möchtest du wissen. Aber all das ist jetzt nicht mehr wichtig. (Seite 181) Aino Laine beschließt fortzugehen, um ihn zu verschonen. Mein Geschenk ist, dass ich jetzt von dir fortgehe. Ein großes Geschenk, bitte nimm es an. (Seite 184) Er blickt ihr durchs Fenster nach, bis sie verschwunden ist. |
Buchbesprechung:
Wahn und Wirklichkeit, Einbildung und Realität sind in dem Roman "Die Möwe" kaum zu unterschieden. Die Handlung, die vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs in Budapest spielt, beginnt im Lauf eines bestimmten Tages und endet einige Stunden später in der Nacht. Ein hoher Ministerialbeamter wird von einer geheimnisvollen Frau aufgesucht, die seiner inzwischen toten Geliebten so ähnlich sieht, dass er überlegt, ob es sich um eine Reinkarnation handelt. So wie der Protagonist sein Geheimnis für sich behält, lässt auch Sándor Márai die Zusammenhänge im Dunkeln. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2010 |