Javier Marías: Der Gefühlsmensch (Roman) |
Javier Marías: Der Gefühlsmensch |
Inhaltsangabe: Ich weiß nicht, ob ich euch meine Träume erzählen soll. Es sind alte, aus der Mode gekommene Träume [...] Was ich heute Morgen träumte, als es schon Tag war, ist jedoch etwas, was wirklich geschah [...]
Der Erzähler ist Operntenor. Man nennt ihn den "Löwen von Neapel". Er wurde in Barcelona geboren und wuchs nach dem Tod seiner Mutter bei seinem Stiefvater Casaldáliga in einem Vorort von Madrid auf. "Herr Manur ist sehr imposant. Sie hingegen ist ein trauriges Kapitel. Natürlich nicht, was das Aussehen betrifft, sie ist sehr attraktiv und elegant, aber sie ist ein Wrack, eine sehr unglückliche Person."
Später kam auch Natalia Mansur aus dem Hotelzimmer ihres Ehemanns herunter und gesellte sich zu den beiden Herren an der Bar. Von da an saßen Dato und Natalia jeden Tag bei den Proben im Teatro de la Zarzuela, wo sich der Erzähler auf die Rolle des Cassio in Verdis Oper "Othello" vorbereitete. (Gustav Hörbiger sang den "Othello".) Die drei waren fast ständig zusammen. Bei der Rückkehr ins Hotel trafen sie einmal Hieronimo Mansur, der zum Mittagessen verabredet war, aber gerade noch zwanzig Minuten Zeit für einen gemeinsamen Drink hatte. Ich wünschte Manur zu vernichten, und ich musste Berta vernichten, um Natalia Manur weiterhin täglich ohne jede Behinderung sehen zu können.
Am Vorabend der Premiere trug Natalia ein leicht ausgeschnittenes Kleid; erstmals sah der Erzähler ihren Brustansatz, und er konnte sich kaum noch auf das Gespräch konzentrieren. Er war so erregt, dass er eine halbe Stunde, nachdem sie zu dritt ins Hotel zurückgekehrt waren, in ihrem Hotelzimmer anrief, obwohl es bereits halb ein Uhr nachts war. Natürlich hob ihr Mann ab. Der Erzähler legte wortlos wieder auf. Er bat den Portier, ihm eine Hure aufs Zimmer zu schicken, doch als Claudina eine Viertelstunde später kam, verspürte er keine Lust mehr. Deshalb gab er ihr Geld und schickte sie wieder fort. "Schauen Sie, ich habe nichts dagegen, dass meine Frau Freundschaften schließt, im Gegenteil. Ich bin ein beschäftigter Mann und kann mich ihr nicht widmen, wie ich gerne wollte, weshalb es mir normal erscheint, dass sie sich mit anderen Leuten zerstreut, zum Beispiel mit Ihnen, einem Opernsänger. Was ich jedoch nicht dulden kann, ist, dass diese Leute mehr von ihr wollen."
Dann erzählte er, wie er Natalia vor 15 Jahren in Madrid kennen gelernt hatte, und zwar durch ihren Bruder Roberto Monte, der bei ihm in Brüssel einen kaufmännischen Kurs absolviert hatte. Sie war damals 19 oder 20 gewesen. Natalias und Robertos Vater habe sich wegen inkompetenter Geschäftsführung und Verschwendung ruiniert. Die Heirat sei eine "kommerzielle Transaktion" gewesen: Er habe Natalias Vater vor dem Bankrott gerettet – und warte nun seit 15 Jahren auf ihre Liebe. Ihre Eltern waren inzwischen gestorben, und ihren Bruder Roberto – ein "verheerender Geschäftsmann" wie sein Vater – hatte er nach Südamerika schicken müssen, weil er sonst wegen Betrügereien und Steuerhinterziehung belangt worden wäre. "Ich will nicht wie ein Idiot sterben, und da ich eines Tages unausweichlich werde sterben müssen, möchte ich in meiner Zeit vor allem für das einzige Sorge tragen, was sicher und unausweichlich ist, aber allem zuvor möchte ich für die Form meines Todes Sorge tragen, denn die Form ist nicht so sicher noch unausweichlich. Es ist die Form unseres Todes, für die wir Sorge tragen müssen, und um dafür Sorge zu tragen, müssen wir für unser Leben Sorge tragen, denn dieses, das nichts an sich ist, wenn es aufhört und ersetzt wird, wird gleichwohl das einzige sein, aus dem wir am Ende das Wissen beziehen können, ob wir wie ein Idiot sterben oder ob wir auf annehmbare Weise sterben. Du bist mein Leben und meine Liebe und mein erkennendes Leben, und weil du mein Leben bist, möchte ich niemand anderen als dich neben mir haben, wenn ich sterbe. Aber ich möchte nicht, dass du plötzlich an mein Sterbebett eilst, nachdem du erfahren hast, dass ich dem Tod nahe bin, oder dass du zu meiner Beerdigung kommst, um dich von mir zu verabschieden, wenn ich dich nicht mehr sehen noch deinen Duft atmen, noch dein Gesicht küssen kann, nicht einmal, dass du bereit bist oder suchst, mich in meinen letzten Jahren zu begleiten, weil wir beide unsere jeweiligen jämmerlichen oder getrennten Leben überlebt haben, denn das ist mir nicht genug. Ich möchte vielmehr, dass das, was in der Stunde meines Todes anwesend ist, die Verkörperung meines Lebens ist, und das ist nichts anderes als das, was dieses Leben gewesen ist, und damit du es gewesen bist, ist es nötig, dass du von jetzt an und bis zu diesem meinem letzten Augenblick an meiner Seite gewesen bist. [...]
Der Erzähler hat den ganzen Tag seinen Traum aufgeschrieben, sein Telefon auf den Anrufbeantworter umgeschaltet und weder gefrühstückt noch mittags etwas gegessen. Hungrig geht er abends in ein Restaurant. Auf dem Weg nimmt er die Post aus dem Briefkasten. Bertas letzter Lebenspartner fragt ihn, ob er noch etwas von seinen Sachen zurückhaben möchte, denn er werde ihre Sachen alle verbrennen.
Aber ihr braucht euch keine Sorgen zu machen, ich wäre unfähig, seinem Beispiel zu folgen. |
Buchbesprechung: Ich wünschte Manur zu vernichten, und ich musste Berta vernichten, um Natalia Manur weiterhin täglich ohne jede Behinderung sehen zu können.
Am Ende wird er selbst von Natalia verlassen, einer Romanfigur, die auf eigenartige Weise unbestimmt bleibt.
"Der Gefühlsmensch" ist eine Liebesgeschichte, in der die Liebe weder sichtbar ist noch lebt, sondern angekündigt und erinnert wird. Ist dies möglich? Kann etwas wie die Liebe, die immer dringend und unaufschiebbar ist, die Gegenwart und Erfüllung oder unmittelbare Zerstörung erfordert, angekündigt werden, bevor sie überhaupt existiert, oder wirklich erinnert werden, wenn sie nicht mehr existiert? Oder verhält es sich so, dass die Ankündigung selbst und die bloße Erinnerung bereits beziehungsweise immer noch einen Teil dieser Liebe bilden? Ich weiß es nicht, wohl aber glaube ich, dass die Liebe weitgehend auf ihrer Vorwegnahme und auf ihrer Erinnerung gründet.
Das eigentliche Geschehen – eine scheinbar simple Dreiecksgeschichte – liegt vier Jahre zurück (wenn es nicht überhaupt nur ein Traum war) und wird in der Ich-Form aus der Erinnerung geschildert.
Ich muss mich vorantasten, und nichts würde mich mehr langweilen und abschrecken als von vornherein, zu Beginn eines Romans, genau zu wissen, wie dieser sein wird: welche Gestalten ihn bevölkern, wann und wie sie auftreten oder verschwinden, was aus ihren Leben oder dem Bruchstück ihrer Leben werden wird, das ich zu erzählen habe. All dies geschieht, während der Roman geschrieben wird, es gehört in das Reich der Erfindung, in der etymologischen Bedeutung von Entdeckung, Fund [...] |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2003
Javier Marías (Kurzbiografie) |