Carson McCullers: Madame Zilensky und der König von Finnland (Erzählungen) |
Kritik: Das Augenmerk der Erzählungen liegt auf der Problematik persönlicher Beziehungen im privaten Bereich sowie in der Gesellschaft. Selbst in den kurzen Geschichten gewinnen die einfühlsam beobachteten Personen Profil durch die Schilderung ihrer individuellen Eigenarten. ![]() |
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Carson McCullers: Madame Zilensky und der König von Finnland |
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Inhalt: Die Erzählungen schildern Ausschnitte aus dem Leben einzelner Personen und thematisieren die seelische Isolierung der Individuen: Die Fremden – Madame Zilensky und der König von Finnland – Wenn es so ist ... – Atem vom Himmel – Ein häusliches Dilemma – Der Jockey – Hof in den West Eighties – Der Marsch – Weihnachten zuhause – Weihnachtszauber |
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Carson McCullers:
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Die FremdenOriginaltitel: The Aliens, Erstveröffentlichung in "The Mortgaged Heart", Houghton Mifflin, Boston 1971; deutsch: "Das Diogenes Lesebuch", Diogenes Verlag, Zürich 1973
Seit fünf Uhr morgens sitzt Felix Kerr in einem Bus. Er fährt nach Lafayetteville, wo er sich ein neues Heim einrichten will, um dort mit seiner Frau Ada und seiner kleinen Tochter Grissel zu wohnen. Im Laufe der langen Reise steigen immer wieder Personen zu. Unter anderem auch ein junger Mann, der sich neben den jüdischen Musiker setzt und ihn mit seiner derben Art in ein Gespräch zieht. Kerr versteht den Dialekt und die Ausdrucksweise des Südstaatlers schlecht und ist froh, als dieser aussteigt. Madame Zilensky und der König von FinnlandOriginaltitel: Madame Zilensky and the King of Finland, Erstveröffentlichungen im "New Yorker", 1941, und in "The Ballad of the Sad Café", Houghton Mifflin, Boston 1951; deutsch: "Die Ballade vom traurigen Café", Diogenes Verlag, Zürich 1961
Dem Leiter der Musikhochschule in Westbridge, Mr Brook, ist es gelungen, die angesehene Komponistin und Pädagogin Madame Zilensky als Dozentin für das Wintersemester zu gewinnen. Er hatte es schon hundertmal beobachtet – was kam ihm also daran so sonderbar vor? Dann begriff er mit einer Art kalter Überraschung, dass der alte Hund rückwärts lief. (Seite 26) Atem vom HimmelOriginaltitel: Breath from the Sky, Erstveröffentlichung in "Redbook Magazine", 1971, und in "The Mortgaged Heart", Houghton Mifflin, Boston 1971; deutsch: "Madame Zilensky und der König von Finnland", Diogenes Verlag, Zürich 1974 Zum ersten Mal darf Constance im Freien sitzen, nachdem sie wegen einer Lungenentzündung lange Zeit im Bett liegen musste. Sie erfreut sich zwar an der Natur, ist aber auch deprimiert, weil sie zusehen muss, wie ihre zwei Geschwister spielen. Als sie dann noch erfährt, dass sie in ein 300 Meilen entferntes Sanatorium gebracht werden soll, um sich dort ohne ihre Familie vollends von ihrer Krankheit zu erholen, fühlt sie sich restlos entmutigt. Ihre Mutter schickt sich an, mit dem Auto wegzufahren und Constance einer Bediensteten zu überlassen. Das Mädchen will ihrer Mutter noch etwas nachrufen, aber ein Hustenanfall macht es ihr unmöglich, auf die lieblose und wohl auch gedankenlose Umgehensweise mit ihr hinzuweisen. Erschöpft schaut sie dem wegfahrenden Auto nach, ohne zu wissen, dass die Mutter soeben vom Arzt erfuhr, wie ernst es um die Kranke steht. Ihre Hände, die so schlaff und farblos wie Talg waren, sanken auf die heiße Nässe, die ihr die Wangen hinunter rann. Und ohne Atem schwamm sie in eine weite, gnadenlose Bläue hinein, wie die des Himmels. (Seite 48) Ein häusliches DilemmaOriginaltitel: A Domestic Dilemma, Erstveröffentlichung in "The Ballad of the Sad Café", Houghton Mifflin, Boston 1951; deutsch: "Die Ballade vom traurigen Café", Diogenes Verlag, Zürich 1961
Donnerstags, wenn das Dienstmädchen Virgie Ausgang hat, verlässt Martin Meadows sein Büro in Manhattan so früh wie möglich und fährt mit dem Expressbus zu seinem Landhaus am Hudson River.
Während Martin den ruhigen Schlummer seiner Frau beobachtete, wich die Spukgestalt des alten Zornes. Alle tadelnden und anklagenden Gedanken rückten weit fort. Martin löschte das Badezimmerlicht und öffnete das Fenster. Behutsam, um Emily nicht zu wecken, schlüpfte er in sein Bett. Im Mondschein warf er noch einen letzten Blick auf seine Frau. Seine Hand suchte das nahe Fleisch, und in der unendlichen Vielgestalt der Liebe vermählten sich Kummer und Sehnsucht. |
BuchbesprechungDas Augenmerk der Erzählungen liegt auf der Problematik persönlicher Beziehungen im privaten Bereich sowie in der Gesellschaft. Selbst in den kurzen Geschichten gewinnen die einfühlsam beobachteten Personen Profil durch die Schilderung ihrer individuellen Eigenarten. Die FremdenEin kürzeres Roadmovie hat man wohl selten gelesen. Wie die beschwerliche Busfahrt und die Unannehmlichkeiten durch aufdringliche Mitreisende den labilen Seelenzustand des Protagonisten zusätzlich belasten, ist mit feinen Beobachtungen einfühlsam geschildert. Madame Zilensky und der König von FinnlandVordergründig hat man den Eindruck, bei Madame Zilensky handele es sich um eine zerstreute, exzentrische Künstlerin. Erst bei weiterem Lesen kommt man dahinter, dass es sich bei dieser Frau um eine traumatisierte Person mit einer leidvollen Vergangenheit handelt, die sich nun in einem fremden Land eine neue Zukunft erhofft. Die drei Kinder, die bei ihr sind, sind wahrscheinlich nicht ihre eigenen; sie hat sie möglicherweise aus einer gefährdeten Situation gerettet und auf ihrer Flucht mitgenommen. Der pedantische, stets pflichtbewusste Mr Brook kann die chaotisch handelnde und sich in Widersprüche verwickelnde Frau aus Europa nicht verstehen und schätzt sie deshalb als Lügnerin ein. Er versucht, ihre Handlungsweise mit rationellen Überlegungen zu deuten – genau wie es der Leser tut –, kommt damit aber nicht weiter. Was bei Madame Zilensky der "König von Finnland" ist, entspricht dem "rückwärtslaufenden Hund" bei Mr Brook. Atem vom Himmel
Die deprimierende Geschichte, die man aus der Sicht des todkranken Mädchens erfährt, lässt die Verhaltensweise der Mutter als kalt und herzlos erscheinen. Berücksichtigt man deren Verzweiflung über die schlechte Nachricht des Arztes, ihre Erschöpfung durch die monatelange Krankenpflege und den seelischen Konflikt, sich nicht anmerken zu lassen, wie ernst der Zustand ihrer Tochter ist, kann ihr die von der Kranken als gefühlskalt empfundene Reaktion nachgesehen werden. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Irene und Dieter Wunderlich 2006
Carson McCullers (Kurzbiografie) |