Eva Menasse: Vienna (Roman) |
Eva Menasse: Vienna |
Inhaltsangabe:Als die Großmutter der Ich-Erzählerin mit deren Vater schwanger war und die Wehen einsetzten, saß sie noch mit ihren Freundinnen in einem Wiener Kaffeehaus und spielte Bridge. Eigentlich hätte sie das dritte Kind nicht mehr gewollt, aber ihre Versuche, es mit Stricknadeln und Sprüngen vom Tisch abzutreiben, waren fehlgeschlagen.
Mein Onkel, der damals sieben Jahre alt war, erwachte, als das Licht anging. Er schlief auf einem schmalen Sofa, das quer zum Ehebett seiner Eltern an dessen Fußende stand. Er erwachte, weil es plötzlich hell war und weil seine Mutter schrie. Sie lag in ihrem Pelzmantel, einem schwarzen Persianer, quer über dem Ehebett. Mein Großvater schrie auch, aber von der Tür her. Außerdem schrie mein Vater, der, wie es später immer wieder erzählt wurde, einfach herausgerutscht war und den Pelzmantel verdorben hatte. Der Persianer war ein Geschenk ihres Mannes. Solche Aufmerksamkeiten halfen ihr, über die zahlreichen Seitensprünge des Wein- und Spirituosenhändlers hinwegzusehen. Mein Großvater spielte Karten und um Geld, aber vor allem spielte er mit Gelegenheiten, mit Kunden, mit Geschäftsabschlüssen, Lieferterminen und Provisionen, mit Frauen, mit Anspielungen und mit Träumen. Dass man beim Spielen nicht immer gewinnen kann, war ihm ganz klar. (Seite 77)
Wegen Unregelmäßigkeiten in der Geschäftsführung verbüßte er mehrere Gefängnisstrafen, und seine Frau erzählte dann den drei Kindern, er sei auf einer Geschäftsreise. "Is er a Jud?", fragte ihr Vater, und er muss der Tante Gustl in diesem Moment herrlich schwach und hilflos erschienen sein. Sie trug den neuen Fuchs mit den blinkenden Äuglein um die Schultern, den der rasend verliebte Verlobte ihr erst kürzlich verehrt hatte, und sie triumphierte, innen wie außen. "Er ist ka Jud, er is a Bankdirektor", antwortete sie. (Seite 14) Dolly Königsbee starb früh, aber seine eigenwilligen Redewendungen wurden in der Familie noch lange zitiert:
"Drei Wochen lang hab ich mich kastriert und trotzdem kein Deka abgenommen", kicherte mein Vater. "In diese Suppe musst dir selbst hineinspucken", erwiderte prompt meine Mutter. "Das ist doch seine Dämone", setzte mein Onkel fort. "Ja, ja, aber immer in der Maske des Biedermeiers", fügte seine Frau, die Tante Ka, hinzu [...]
Tante Gustls Sohn Ferdinand ("Nandl") galt als missraten. Mit über sechzig heiratete er im Gefängnis. Bald darauf starb er. Er schwelgte in großen Ideen und Geschäften, bloß die dadurch bedingten großen Zahlen bereiteten ihm Probleme. Er war ein Baumeister und Architekt, doch leider kein Geschäftsmann. (Seite 237)
Als er Anfang der Fünfzigerjahre starb, musste die Witwe mit den jüngeren Kindern von der herrschaftlichen Villa in eine Mietwohnung in Wien umziehen. Eine ihrer Töchter – die Mutter der Erzählerin – fing in einer Handelsfirma in der Mariehilferstraße zu arbeiten an. Mit dem Prokuristen Lubomierz Kat, einem gebürtigen Polen, begann sie ein Verhältnis. Aber nach drei Jahren hielt sie seine Eifersucht nicht mehr aus. Sie trennte sich von ihm und ging mit verschiedenen Männern, darunter dem Vater der Erzählerin. Als dieser ihr gestand, er sei mosaisch, fragte sie, ob das eine Krankheit sei. Die beiden heirateten, und nach drei Jahren Ehe bekamen sie das erste Kind. [...] mein Onkel freute sich nie. Er wusste, es würde nicht dabei bleiben. "Ich hab g'wusst, die Sache hat an Haken" – das wurde später seine Lieblingswendung. Er war ein Pessimist, der sich nur dann bitterlich freuen konnte, wenn er mit seinen Unglücksprognosen wieder einmal Recht behalten hatte. (Seite 81) Innerhalb von weniger als zwei Jahren verspielte er sein Vermögen. Einige in der Familie glaubten, es habe damit angefangen, dass er es nicht hinnehmen konnte, dass seine geschiedene Frau durch heimliche Geschäfte zwischen Israel und Ostblockstaaten reich wurde. Damals soll [...] mein Onkel aus gekränkter Eitelkeit [...] der kleinen Engländerin eine Papier- und Verpackungsfabrik vor der Nase weggeschnappt haben, deren späterer Bankrott den Anfang vom wirtschaftlichen Untergang meines Onkels bedeutete. Denn mein Onkel, der mit dieser Firma zwar einen Haufen Geld, aber nicht seine Existenzgrundlage verlor, soll dadurch so in Panik geraten sein, dass er in der Folge, bei seinen Versuchen, den Verlust auszugleichen, einen schwerwiegenden Fehler nach dem anderen machte. (Seite 310f)
Nach dem Tod seiner zweiten Frau, Tante Ka, besorgte die Schwester der Erzählerin dem Onkel eine Haushaltshilfe, die zufällig aus Burma stammte: Mi Mi Kiang ("Mimi"). Diese fragte ihn eines Tages, ob er bereit sei, sie zu adoptieren, damit sie im Land bleiben könne. Er versuchte es, scheiterte jedoch an einem Richter des Bezirksgerichts. |
Buchbesprechung:
Der Roman "Vienna" von Eva Menasse dreht sich um eine Familie in Wien mit jüdisch-österreichischen und katholisch-slawischen Wurzeln. Den Mitgliedern fällt es nicht leicht, sich über ihre Identität klar zu werden. Was ihnen dabei hilft, sind die Erinnerungen, die in der Familie weitergegeben werden. Vienna ist kein Schlüsselroman über meine Familie. Er ist von einigen Geschichten inspiriert, die in meiner Familie wirklich vorgekommen sind. Der Vater ist Fußballer, der Onkel hat im Burma-Krieg gekämpft. Aber es ist sicher noch viel mehr erfunden. Vielleicht wollte ich meine Familie gerne auch so haben, wie sie jetzt in dem Roman ist. Da ist genauso viel Gewünschtes in dem Roman, wie Fakten. (Eva Menasse)
Mit ihrem Ehemann, dem Schriftsteller Michael Kumpfmüller (* 1961) lebt Eva Menasse in Berlin. "Vienna" ist ihr Romandebüt. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2009
Eva Menasse (kurze Biografie / Bibliografie) |