Anna Mitgutsch: Wenn du wiederkommst (Roman) |
Anna Mitgutsch: Wenn du wiederkommst |
Inhaltsangabe:
Durch einen Anruf ihrer einunddreißigjährigen Tochter Ilana erfährt die in Österreich lebende Ich-Erzählerin vom Tod ihres Ex-Mannes Jerome in Boston-Dedham. Vor wenigen Wochen erst besuchte sie ihn. Sie nimmt das nächste Flugzeug, um an der Trauerfeier teilzunehmen und die Schiwa mit Ilana im Haus des Verstorbenen zu verbringen. Und jedes Mal fuhren wir anschließend mit unseren Zeugen, unseren Anwälten, die auch unsere gemeinsamen Freunde waren, zum Essen ans Meer und danach zusammen nach Hause, als hätte sich nichts geändert. Wo hätte ich sonst hinfahren sollen, ich hatte nie ein anderes Zuhause gehabt, nicht in diesem Land. In den fünfzehn Jahren seit der Scheidung riss die Verbindung nicht ab. Beim letzten Besuch der Österreicherin bei ihrem Ex-Mann in Boston kamen sie sich wieder so nah, dass sie an einen Neuanfang glaubten. In ein paar Monaten wollte die Erzählerin für ein halbes Jahr zu Jerome kommen.
Wie schon seit langem nicht mehr machten wir Pläne.
Jerome war mit einer Klientin in der Innenstadt unterwegs, als er mit einem Herzinfarkt zusammenbrach und ins Mass General Hospital gebracht wurde, wo ihm die Ärzte allerdings nicht mehr helfen konnten. Ich hatte befürchtet, dass ich irgendwann in der Schiwa-Woche die Beherrschung verlieren würde, nicht in den ersten Stunden, und nicht gleich am ersten Tag, aber die Tage laufen ineinander, und jeden Nachmittag sitzen sie auf unseren Stühlen und unserem Sofa, holen sich in der Küche Kaffee und Mineralwasser, jeden Abend sitzen sie an unserem Tisch und ich kann ihre Reden nicht mehr hören, die Freunde, die ich kaum oder gar nicht kenne, die Verwandten, die mich ignorieren, der Schwager, der sich dagegen verwahrt, dass ich ihn meinen Schwager nenne, Louise, die sich als Witwe feiern lässt, Leslie, der verleumderische Anekdoten über Jerome erzählt, und irgendwann fange ich an, die unerträgliche Wahrheit einzuklagen, dass der Tod ein Schlächter ist, und dass sie mit ihren selbstgefälligen Phrasen, ihrem Beharren auf Normalität, den Schmerz, den er uns zugefügt hat, noch verstärken. Abends, nachdem die letzten Besucher gegangen sind, reden Ilana und ihre Mutter über sie. Wir reden über die Besucher und erinnern uns an frühere Zeiten mit ihnen und Jerome, wir überlegen, wie er über sie dachte, ob er sie mochte, mit welchen witzig sarkastischen Bemerkungen er sie charakterisiert hätte.
Die Ich-Erzählerin zerreißt das Foto einer Frau. Sie hieß Suleyma. Jerome hatte die Tochter eines russisch-jüdischen Vaters und einer irisch-katholischen Mutter vor siebenunddreißig Jahren im Kibbuz kennengelernt. Sie war verheiratet und hatte Kinder. Aber die beiden blieben die ganze Zeit über in Kontakt. Vor eineinhalb Jahren erzählte Jerome seiner Ex-Frau, Suleyma sei unheilbar an Krebs erkrankt. Inzwischen ist sie tot.
Wir reden von seiner Lebensfreude, seiner Freude an gutem Essen, an der Musik, seiner Leidenschaft für das Theater, seinem fast naiven Interesse an allen Menschen und seinem Glück, wenn er sie unterhalten und begeistern konnte, wenn sie lachten und ihm applaudierten. Dazu gehörte wohl auch sein Ergötzen an der Vielfalt weiblicher Schönheit. Aber sein unstillbarer Appetit auf alles, was das Leben zu bieten hatte, war nur die eine Seite seiner widersprüchlichen Natur, denn dicht daneben lag immer ein Hang zur Selbstzerstörung, der auf Verluste keine Rücksicht nahm, und eine Trauer, als käme alles Licht aus einer unerreichbar fernen Quelle. Er steckte voller Ideen, die sich nicht verwirklichen ließen. Zu Beginn seiner Karriere als Rechtsanwalt hatte er sich mit dem Bruder einer Ex-Freundin zusammengetan, der sich für vom Aussterben bedrohte Tierarten einsetzte und darüber die Arbeit vernachlässigte. Nachdem Jerome die Kanzleigemeinschaft mit ihm aufgekündigt hatte, feierte er als Strafverteidiger Triumphe und avancierte zum Teilhaber einer renommierten Kanzlei in Boston. Aber dann beschäftigte er sich mit dem Asylrecht, um Betroffenen helfen zu können, und seine Partner ekelten ihn aus der Kanzlei hinaus. Jerome engagierte sich dafür, dass auch mittellose Menschen zu ihrem Recht kamen. Aber sie achteten ihn nicht, er war zu sehr einer von ihnen geworden, und für die wichtigen Prozesse nahmen sie bekannte Anwälte und hatten auf einmal auch das Geld dafür.
In Jeromes Nachlass befindet sich ein umfangreiches Dossier über einen 1912 geborenen Deutschen namens Heribert Hacker. Es dauert einige Zeit, bis die Erzählerin begreift, warum Jerome sich mit dem Mann beschäftigte, der sich im
Es tut mir schrecklich leid, dass Dich Deine Frau verlassen hat und auch dass es Dir so nahegeht, aber ich kann Dir dabei nicht helfen. Du weißt ja, wie sie ist, egoistisch und uneinsichtig, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat. Ich fürchte, niemand kann sie dazu bewegen, zu Dir zurückzukehren, jedenfalls nicht jetzt. Die Erzählerin ist verblüfft, als sie das liest, denn sie dachte, Jerome habe sie verlassen und nicht umgekehrt.
Ich beginne zu begreifen, dass mir der Versuch, Jeromes Leben mit meinen Erinnerungen zur Deckung zu bringen, nur widerspruchslos durchgeht, solange ich keine Zeugen anrufe. Ich kann zwei Drittel seiner Fotos vernichten, ich kann den Bademantel, den ihm seine letzte Freundin zum Geburtstag geschenkt hatte, mit rachsüchtigem Vergnügen in den Müll werfen, und all die kleinen Andenken, die Musikkassetten und CDs, die ihn an schöne Augenblicke erinnerten, ich kann sein Leben im nachhinein zensieren, aber ich kann seine Erfahrungen nicht ungeschehen machen. Es gab eine Wirklichkeit und es gibt Zeugen.
In Jeromes Schlafzimmer reißt die Zimmerdecke auf, Regenwasser tropft herab und ruiniert das Bett. Hier finde ich Jerome nicht. Hier begruben sie nur seine Leiche. Ilana, die in Yale Theaterwissenschaften, Regie und vergleichende Literaturwissenschaften studiert hatte, beschloss während der Schiwa, ihren Verlegenheitsjob an der Brown University in Providence zu kündigen, nach New York City zu ziehen und dort ihr Glück als Theaterproduzentin zu versuchen. Ihre Mutter ist erleichtert, als sie nun hört, dass Ilana sich mit einem Sabbatical begnügt. In fünf Monaten soll ihr erstes Theaterstück in Providence aufgeführt werden. |
Buchbesprechung:
In dem Roman "Wenn du wiederkommst" von Anna Mitgutsch trauert die Ich-Erzählerin, deren Namen wir nicht erfahren, um ihren verstorbenen Lebensgefährten Jerome. Die Handlung beginnt mit dem letzten Besuch bei ihm, wenige Wochen, bevor er einem Herzinfarkt erliegt, und endet mit dem Ablauf des Trauerjahrs. Die Erzählerin erinnert sich an die lange Zeit, in der sie Jerome nahestand. Sie denkt an glückliche Erlebnisse ebenso wie an gegenseitige Verletzungen. Im Gespräch mit anderen, die Jerome ebenfalls kannten, lernt sie, dass ihr Bild von ihm subjektiv ist und es durchaus abweichende Vorstellungen gibt. Ältere Fotos und Briefe in der Hinterlassenschaft des Verstorbenen, die nicht mit ihrer Erinnerung übereinstimmen, lassen sie sogar an ihrem Selbstbild zweifeln. Das Trauerjahr dient deshalb auch der Selbstfindung. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2011
Anna Mitgutsch (Kurzbiografie / Bibliografie) |