Jacques Monod: Zufall und Notwendigkeit.
Philosophische Fragen der modernen Biologie
      Während die Morphogenese durch den DNS-Code determiniert ist, ermöglichen zufällige Störungen (Mutationen) überhaupt erst die Evolution. Der Mensch ist in der Evolution weder eine Ausnahme noch ein Ziel, sondern wie alle anderen Lebewesen das Produkt von Zufällen. Kritik, Rezension  

Jacques Monod:
Zufall und Notwendigkeit

 
 
"Wenn er diese Botschaft in ihrer vollen Bedeutung aufnimmt, dann muss der Mensch [...] seine totale Verlassenheit, seine radikale Fremdheit erkennen. Er weiß nun, dass er seinen Platz wie ein Zigeuner am Rande des Universums hat, das für seine Musik taub ist und gleichgültig gegen seine Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen." (Jacques Monod) Inhaltsangabe, Inhalt


Originalausgabe: Le hasard et la nécessité
Éditions du Seuil, Paris 1970

Zufall und Notwendigkeit
Übersetzung: Friedrich Griese
Piper Verlag, München 1971
   


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Jacques Monod: Zufall und Notwendigkeit

Philosophische Fragen der modernen Biologie




Inhaltsangabe und Buchbesprechung

Alles, was im Weltalt existiert, ist die Frucht von Zufall und Notwendigkeit. (Demokrit)

Diese 2500 Jahre alte These untermauert der französische Nobelpreisträger Jacques Monod durch die Erkenntnisse der Genetik.

Einleitend schreibt er:

Dieser Essay will keineswegs die gesamte Biologie darstellen; er versucht einfach, aus der Molekulartheorie des Code die Quintessenz zu ziehen.

Jacques Monod (1910 - 1976) erhielt 1965 zusammen mit André Lwoff und François Jacob den Nobelpreis für Medizin. Sein kluger Essay "Zufall und Notwendigkeit" – von dem hier nur einige Grundgedanken aufgegriffen werden – geht auf Vorträge zurück, die er im Februar 1969 am Pomona College in Kalifornien hielt ("Robbins Lectures") und auf Vorlesungen am Collège de France 1969/70.


Während ein Artefakt durch die Einwirkung äußerer Kräfte zustandekommt, eine Skulptur unter dem Meißel des Bildhauers entsteht, formen natürliche Objekte sich weitgehend autonom. Ein "autonomer innerer Determinismus" sorgt für die Herausbildung der komplexen Strukturen von Lebewesen.

Durch den autonomen und spontanen Charakter der morphogenetischen Prozesse, in denen sich ihre makroskopische Struktur aufbaut, unterscheiden sich die Lebewesen absolut von den Artefakten wie übrigens auch von den meisten natürlichen Objekten [...] Der Organismus ist eine Maschine, die sich selbst aufbaut. Seine makroskopische Struktur wird ihm nicht durch das Eingreifen äußerer Kräfte aufgezwungen. Er bildet sich autonom, durch innere Wechselwirkungen, die dem Aufbau dienen.

Dabei sind im mikrokosmischen Bereich kognitive Fähigkeiten zu beobachten; die Morphogenese beruht auf "Erkenntniseigenschaften der Proteine". Mischt man zum Beispiel einzelne Bestandteile des Bakteriophagen T4 in vitro, lagern sie sich spontan zu einem funktionsfähigen Bakteriophagen zusammen. Die entscheidende Information ist also in den Bestandteilen vorhanden, und sie können passende Teile "erkennen". Die Morphogenese makrokosmischer Strukturen geht auf mikrokosmische Phänomene zurück. Wir wissen heute, dass die grundlegende Information in der DNS gespeichert ist.

Der epigenetische Aufbau einer Struktur ist nicht eine Schöpfung, er ist eine Offenbarung.

Invarianz geht jeder Entwicklung notwendigerweise voraus. Wenn Zellen und Organismen sich fortpflanzen, ist das ein konservativer Prozess reproduktiver Invarianz. Bücher von Dieter Wunderlich Nur durch Übersetzungsfehler in den Kopien (Mutationen) – also durch zufällige Störungen – werden Änderungen und Entwicklungen möglich. Die Modifikation erfolgt also im mikrokosmischen Bereich. Die Selektion greift dann im makrokosmischen Bereich, je nachdem, ob die Auswirkung der Änderung für das Überleben des Lebewesens in der gegebenen Umwelt günstig oder ungünstig ist. Durch die Selektion wird aus den zufälligen Mutationen das Ungeeignete wieder ausgesiebt, sodass nur das Optimale übrigbleibt und reproduziert wird.

Bedenkt man die Dimensionen dieser gewaltigen Lotterie und die Schnelligkeit, mit der die Natur darin spielt, dann ist das schwer Erklärbare, wenn nicht beinahe Paradoxe nicht mehr die Evolution, sondern im Gegenteil die Beständigkeit der "Formen" in der belebten Natur.

Durch den Zufall wird die Evolution überhaupt erst möglich. Deterministisch ist dagegen die Morphogenese, die kybernetische Steuerung in Zellen und Organismen sowie die Selektion.

Alle Lebewesen setzen sich ausnahmslos aus den gleichen beiden Hauptklassen von Makromolekülen zusammen – aus Proteinen und Nukleinsäuren.

Der Mensch bildet in der Evolution keine Ausnahme. Das heißt: Er ist das Produkt von Zufällen. Diese Erkenntnis löst Angst aus und verunsichert. Jahrtausendelang nahmen wir ein notwendigerweise zum Homo sapiens führendes teleonomisches Prinzip an, entweder nur für die Biosphäre (vitalistische Theorien) oder universell (animistische Theorien wie zum Beispiel der Marxismus). Aber das beruhte nur auf einer "anthropozentrischen Illusion".

Wir möchten, dass wir notwendig sind, dass unsere Existenz unvermeidbar und seit allen Zeiten beschlossen ist. Alle Religionen, fast alle Philosophien und zum Teil sogar die Wissenschaft zeugen von der unermüdlichen, heroischen Anstrengung der Menschheit, verzweifelt ihre eigene Zufälligkeit zu verleugnen.

Jacques Monod vertreibt den Menschen "aus der Nestwärme der Ideologien" ("Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt"). Er betont, dass der Mensch wie alle anderen Lebewesen auch ein Produkt von Zufall (Mutation) und Notwendigkeit (Morphogenese) ist. Wie die Existenzialisten ist Monod davon überzeugt, dass es keine religiösen oder "natürlichen" Gesetze gibt, sondern nur eine bewusst gesetzte Ethik, die der Mensch sich selbst auferlegt.

Der Alte Bund ist zerbrochen; der Mensch weiß endlich, dass er in der teilnahmslosen Unermesslichkeit des Universums allein ist, aus dem er zufällig hervortrat. Nicht nur sein Los, auch seine Pflicht steht nirgendwo geschrieben.

Wenn er diese Botschaft in ihrer vollen Bedeutung aufnimmt, dann muss der Mensch endlich aus seinem tausendjährigen Traum erwachen und seine totale Verlassenheit, seine radikale Fremdheit erkennen. Er weiß nun, dass er seinen Platz wie ein Zigeuner am Rande des Universums hat, das für seine Musik taub ist und gleichgültig gegen seine Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen.

Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2003
Textauszüge: © Piper Verlag

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