Hans Erich Nossack: Spätestens im November (Roman) |
Hans Erich Nossack: Spätestens im November |
Inhaltsangabe:Beim Festakt anlässlich der erstmaligen Verleihung eines Literaturpreises des Industrieverbandes in der Kunsthalle vertritt Marianne Helldegen ihren Ehemann Max, der geschäftlich in Kassel zu tun hat. Eine Jury sprach den Preis, den die Helldegen-Werke stifteten, dem Schriftsteller Berthold Möncken zu. Der Oberbürgermeister erkundigte sich, was mein Mann zu der Wahl, die die Jury getroffen hätte, gesagt habe und ob er damit einverstanden sei. Ja sehr, antwortete ich, und er finde es großartig, wie alles gemacht sei. Es ging sie nichts an, dass Max sich überhaupt nicht mehr darum gekümmert hatte. Ich glaube, er wusste nicht einmal den Namen. Max hatte andere Dinge im Kopf; wer den Preis kriegte, war ihm nicht wichtig. Nur der Preis selber, und dass er auf seine Anregung gestiftet worden war, darauf legte er großen Wert. Es war eine Reklame für ihn. Oder für die Fabrik.
Marianne Helldegen und Berthold Möncken fühlen sich vom ersten Augenblick an verbunden. Als sie nach der Preisverleihung aufeinander zugehen, sagt der Schriftsteller unvermittelt zu der ihm noch unbekannten Frau: "Mit Ihnen lohnt es sich zu sterben." Ohne auch nur ihren Namen zu kennen, folgt er ihr zu einem Taxi und fährt mit ihr zu der Villa, in der sie mit ihrem Mann und dem fünfjährigen Sohn Günther wohnt. "Mein Vater war warm und erfolglos, seine Lage erbitterte mich so, dass ich mir vornahm, reich zu werden. Das ist das ganze Geheimnis meines Erfolgs, keinerlei große Ideen und nicht einmal eine überragende Tüchtigkeit, sondern Neid und Hass gegen die Armut." Marianne ist noch in ihrem Zimmer, als Max Helldegen eintrifft. Herr Blanck ("alles Nachahmung und Ehrgeiz") stellt ihm den Gast vor, und der Industrielle wendet sich an ihn:
"Welch eine Freude, mein verehrter Herr Möncken, dass ich Ihnen noch persönlich die Hand schütteln darf. Ich konnte leider heute Nachmittag bei dem Festakt nicht dabei sein, ich hätte viel darum gegeben. Aber unsereiner ist nicht Herr seiner Zeit. Umso dankbarer bin ich meiner Frau, dass sie Sie hierhergebeten hat. Wirklich, ein großartiger Gedanke von ihr." Da kommt Marianne die Treppe herunter. Ihrem Mann fällt sofort auf, dass sie einen Mantel über dem tief ausgeschnittenen Kleid trägt, das sie für den Festakt ausgesucht hatte. Sie erklärt ihm, dass sie mit Berthold Möncken wegfahren werde.
"Du kennst diesen Herrn da schon länger?", fragte er [...]
Während sie ihren Ehemann stehen lässt, umarmt sie ihren Schwiegervater zum Abschied. Sie weiß, dass er ebenfalls von seiner Frau verlassen wurde, als Max sieben Jahre alt war. "Meine Eltern zum Beispiel, sie lebten so, wie es sein muss. Etwas andres kam gar nicht für sie in Frage. Meine Mutter hat nie auch nur versucht, meinen Vater zu verlassen; es ist komisch, sich so etwas überhaupt nur vorzustellen; sie wird nicht einmal die Sehnsucht gehabt haben. Aber nicht weil sie so glücklich war; glücklich waren meine Eltern nicht. Sie waren auch nicht unglücklich, ich weiß nicht, was sie waren; es war alles so tot und gleichmäßig, heute wie gestern und morgen wieder so und immer so weiter." Und sie erinnert sich in diesem Zusammenhang an einen Vers: Dass wir vom Glücke träumen und es kennen / und doch nicht haben, das ist unser Unglück.
Weil in Bertholds Zimmer kein Platz ist, wird Marianne bei einem jungen Paar einquartiert, das fast ebenso beengt wohnt. Zwei Wochen lang bleiben Berthold und Marianne in D. Dann fahren sie in den Grenzort Ludwigshof und nehmen sich ein Zimmer in einer Pension. Dort sind sie glücklich, werden jedoch nach kurzer Zeit vom Regenwetter vertrieben. In einer anderen Stadt richten sie sich ein. Die Vermieterin des Zimmers, Frau Viereck, stammt aus dem Osten und lebt erst seit einigen Jahren hier. Ihr gehört im Mietshaus eine ganze Etage mit sieben oder acht Räumen, die sie alle vermietet hat. Sie selbst wohnt in einer fensterlosen Kammer. "Wenn ich nicht schreiben würde, wäre ich schon nicht mehr da." Aber zufrieden ist er dabei nicht: "Es ekelt mich vor allem, was ich geschrieben habe." Um ihn nicht zu stören, verbringt Marianne die Vormittage bei schönem Wetter im Park oder bei Regen in Museen. Sie leidet darunter, dass Berthold sich auch nicht mehr Zeit für sie nimmt als Max es tat. Hin und wieder gehen sie ins Kino, aber sonst unternehmen sie nichts. Die Vereinsamung stört Berthold nicht. Er will keine Gespräche mit anderen Menschen führen: "Um Gottes willen, es läuft nur auf Geschwätz hinaus."
Zwei Monate nachdem Marianne ihren Mann verließ, kündigt ihr Schwiegervater seinen Besuch an. Er habe sich gerade in Berchtesgaden erholt, schreibt er und komme für eine Nacht in die Stadt, in der Marianne und Berthold jetzt leben. Falls ihnen sein Besuch ungelegen komme, sollten sie ihm eine Nachricht im Europäischen Hof hinterlassen, wo er ein Zimmer reserviert habe. Marianne geht am Hotel vorbei, kann sich jedoch nicht zu einer Absage entschließen. Aus Sorge, Berthold könne sich durch die Nachricht gestört fühlen, verschiebt sie die Mitteilung immer wieder, bis es zu spät ist und der Schwiegervater vor der Türe steht. "Manchmal glaube ich, ich störe ihn nur, und er braucht mich nicht. Er braucht überhaupt keinen anderen Menschen, sie sind ihm nur lästig. Er braucht mich nicht zum Essen und nicht zum Schlafen und nicht zum Knopfannähen. Ich weiß nicht, wozu ich da bin. Es ist schlimmer als Verheiratetsein. Es ist schlimmer als Totsein."
Als Berthold wieder da ist, lässt Mariannes Schwiegervater sich von einem Taxi zum Hotel fahren. Marianne packt ihren Koffer und folgt ihm, ohne dass Berthold sie aufzuhalten versucht.
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht, Max erfährt von der Premiere eines Stücks aus der Feder seines Nebenbuhlers erst wenige Stunden vorher. Aus Sorge, es könne Anspielungen auf die zurückliegenden Ereignisse oder die Familie Helldegen geben, schickt er Blanck ins Theater. Erkundigungen ließ er schon vor einem halben Jahr einziehen. Dabei fand er heraus, dass Berthold Möncken vor zehn oder fünfzehn Jahren politisch links stand. "Man kennt diese Sorte. Zu faul, um einen richtigen Beruf zu ergreifen. Er ist lange Fabrikarbeiter gewesen, trotz seiner Herkunft."
Als Max vom Büro nach Hause kommt, rät sein Vater ihm, offen mit Marianne zu reden, aber dazu ist er nicht in der Lage. Marianne kommt herunter und trinkt drei Gläser Pernod, was sie sonst nie tut. Sie warten zusammen, bis Gerda aus dem Theater kommt. Aufgeregt erzählt sie von dem Stück und berichtet, dass Berthold Möncken am Schluss auf die Bühne gerufen wurde. Und dann kam der Wagen ins Fliegen. Da, wo die Lichtgirlande ins Dunkle abbiegt. Wir schwebten. Wie leicht wir waren! Federleicht. Wir wurden zu dem Pfeiler der Eisenbahnbrücke hingeweht. Immer schneller.
Mariannes Schwiegervater rät seinem Sohn, ihr zum Theaterkeller nachzufahren. Das sei seine einzige Chance und auch seine Pflicht, meint er. Aber davon will Max nichts wissen.
"Herr Generaldirektor." |
Buchbesprechung:
In seinem Roman "Spätestens im November" zeigt Hans Erich Nossack den Zusammenhang zwischen Eros und Thanatos auf. Die Liebe kontrastiert hier nicht nur mit der Vernunft, sondern vor allem mit der gefühllosen Welt von erfolgreichen Industriellen zur Zeit des Wirtschaftswunders in der Bundesrepublik Deutschland Anfang der Fünfzigerjahre. Hans Erich Nossack kritisiert nicht nur den Kapitalismus, sondern nimmt auch den verlogenen Kulturbetrieb satirisch aufs Korn. "Es ist eine alte Geschichte, vor vielen hundert Jahren. In Italien natürlich. Aber gespielt würde in modernen Kleidern, genauso wie wir."
Um eine Fehde mit der in Rimini ansässigen Familie Malatesta zu beenden, verheiratete Guido da Polenta, ein Edelmann aus Ravenna, seine schöne Tochter Francesca (1255 – 1285) mit Giovanni Malatesta. Weil der Erbe des Hauses Malatesta gelähmt und entstellt war, gab sich sein Bruder Paolo als Bräutigam aus. Als Francesca da Rimini den Betrug durchschaute, war es bereits zu spät. Sie verliebte sich in Paolo Malatesta, und er erwiderte ihre Gefühle. Als der gehörnte Ehemann Giovanni Malatesta davon erfuhr, ermordete er das Liebespaar.
Es geht nicht um Francesca und Paolo. Ihr Schicksal hat sich erfüllt und gilt uns als Erfüllung [...]
"Spätestens im November" hat auch märchenhafte Züge. Obwohl die Geschichte von einer der Hauptfiguren in der Ich-Form erzählt wird, wechselt die Perspektive. Was Marianne Helldegen nicht selbst erlebt hat, schildert sie so, wie man es ihr berichtet hat, oder sie stellt sich vor, wie es gewesen sein könnte. Erst am Ende begreifen wir, dass sie bereits tot ist. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2011 |