Matthias Politycki: Jenseitsnovelle (Novelle) |
Matthias Politycki: Jenseitsnovelle |
Inhaltsangabe:Wenn nur der Geruch nicht gewesen wäre! Als ob Doro vergessen hatte, das Blumenwasser zu wechseln, als ob die Stengel über Nacht zu faulen angefangen hatten und der Luft nun ein süßsaures Nebenaroma beimischten. Schepp witterte es auf der Stelle, dieses dezent Andere, das ihn inmitten des Gewohnten erwartete und den Morgen auf eine zarte Weise in Schräglage brachte. Vom gegenüberliegenden Ende seines Zimmers flutete freilich auch heute der Herbst herein und verwandelte jeden Gegenstand in etwas gelbgold oder rotbraun Schimmerndes. (Seite 7)
So beginnt die "Jenseitsnovelle" von Matthias Politycki.
Wieder schlug ihm der Geruch entgegen, ganz und gar fremd jetzt in seiner Süßlichkeit, mit einer Beimischung aus Schweiß und Urin und – er schrak zurück, riss den Mund auf. Doro ist tot. Ihr Anblick hielt ihn auf Distanz, das Gesicht zur Maske erstarrt, erschreckend friedlich und erschreckend fremd schon, fast faltenlos glatt, ihrer Schwester verblüffend ähnlich, die ja noch nicht einmal die Fünfzig erreicht hatte, seltsam. (Seite 119) Offenbar korrigierte sie das Manuskript eines Romanfragments, das er Anfang der Siebzigerjahre noch mit der Schreibmaschine getippt hatte: "Marek, der Säufer". Er hatte den Versuch damals abgebrochen und den Stapel Papier längst vergessen. Wie üblich findet er Doros Kommentare am Rand. Diesmal hat sie auch noch eine mehrere Seiten lange Nachbemerkung dazugeschrieben. Schepps Blick fällt auf folgende Passage:
Meinetwegen fährst Du, jetzt spreche ich es doch aus, fährst Du zur Hölle! Mitsamt
Sich so unbeherrscht auszudrücken, war gar nicht ihre Art. War Doro kurz vor ihrem Tod nicht mehr zurechnungsfähig? Schepp schnaufte, Schepp hatte zu tun, alles war plötzlich wichtig. Nachdem er es geschafft hatte, Doros Hände zu falten – immer wieder waren sie ihm auseinandergerutscht, bis er sie [...] gewaltsam verhakt hatte –, und nachdem er ihr ein Kissen unter den gebogenen Nacken geschoben, lag sie filigran da wie immer. Ihr den Mundwinkel geradezuziehen, wagte er nicht, ihr den klaffenden Unterkiefer zuzudrücken, erst recht nicht, ihr die Lider über die Augen zu streichen, am allerwenigsten. (Seite 33f) Er beginnt, das alte Manuskript und Doros Kommentare zu lesen. Bei Marek Seliger, dem Protagonisten des Romanfragments, handelt es sich um einen Gelegenheitsarbeiter, der in seiner entsprechend umgebauten und eingerichteten "Ente" (Citroën 2 CV) schläft. Um Hanni, die Bedienung in der Gaststätte "Blaue Maus" sehen zu können, wird er zum Säufer. Wann immer er die Blaue Maus betrat, befiel ihn, für jeden sichtbar, 'ne Beklommenheit, die sich steigerte, wenn Hanni nur in seine Nähe kam; richtete sie gar das Wort an ihn, verschlug's ihm vollends die Sprache. (Seite 58)
"Warum nennst du ihn nicht gleich Hinrich?", schrieb Doro neben den Namen der Hauptfigur; den Namen Hanni strich sie durch und schrieb "Dana" darüber. Glaubte Doro, er habe in "Marek, der Säufer" eigene Erlebnisse aus den letzten Jahren verarbeitet? Das wäre falsch, denn er hatte an dem Manuskript als Doktorand geschrieben, bevor er sie kannte, und es handelte sich um die Geschichte eines ehemaligen Mitschülers.
Woraufhin es mit der Beschaulichkeit vorbei war. Aufgrund der neuen visuellen Eindrücke neugierig geworden, ging er mit Doktoranden ins "La Pfiff" und sah sie dort zum ersten Mal. Damals arbeitete sie hier noch nicht als Bedienung, sondern sie kam mit einem Herrn und einer Dame und stellte sich mit ihnen an die Theke. Unvermittelt küsste sie den Mann, und aufgrund seiner operierten Augen konnte Schepp nicht übersehen, dass sie dabei die Zunge benutzte. Er vermochte seinen Blick nicht mehr abzuwenden. Sie würde den Mann doch wohl in der nächsten Sekunde zu Boden küssen? Dann aber, ohne jede Hast, hob sie das rechte Bein – oder das linke? egal! – und legte es um seine Hüfte, zog ihn damit näher an sich heran, keine Sekunde die Zudringlichkeit ihrer Zunge reduzierend, als wollte sie sich seiner jetzt vollends bemächtigen. (Seite 48)
Plötzlich stieß sie ihn fort, dreht sich zu der anderen Frau um und küsste auch sie. Etwas später verließ sie mit den beiden das Lokal.
Nun habe sie ihm selbst diesen schweren Tag verdorben, heimtückisch, von langer Hand geplant. Er habe sie ja schon immer im Verdacht gehabt, dass sie in ihrer stillen Art so manches ausbrüte, was er lieber gar nicht wissen wolle, dass sie so manches im Schilde führe, zu dessen Umsetzung ihr dann gottlob der Mut fehlte [...] Doro schreibt, sie habe sich damals, als sie ins "La Pfiff" gekommen sei, mit Dana verabredet. Du wirst es mir vielleicht nicht glauben, aber indem ich mich heimlich mit ihr verabredete, wollte ich anfangs, naiv, wie ich war, nur das eine: wollte Dich vor ihr bewahren. Sie hätte Dich ja nach Strich und Faden ausgenommen, sie hätte Dich ruiniert, so einer wie Du wäre ihr gerade recht gekommen – wenn Du Dich nicht im letzten Moment dermaßen tölpelhaft benommen und ihren Stolz verletzt hättest. Den hast Du unterschätzt. (Seite 99) Vier Jahre lang trafen sie sich so häufig wie möglich, und Doro erzählte ihr regelmäßig, wie Schepp sich ihr gegenüber benommen hatte. Die beiden Frauen wurden Freundinnen, aber ihre Beziehung sei platonisch geblieben, versichert Doro. Erst aus den Aufzeichnungen erfährt Schepp, dass Danas voller Name Danuta lautet und dass sie für ihre Mutter, ihre Großmutter und einen kleinen Sohn in Polen sorgt. Ohne den einen oder anderen zu schröpfen, der besonders hartnäckig hinter ihr her war, ohne ab und zu etwas zu unterschlagen oder mitgehen zu lassen, wäre es ihr gar nicht möglich gewesen. (Seite 101)
Nachdem Dana weggegangen war, hatte Doro noch fast ein Jahr gebraucht, bis sie sich dazu durchrang, ein neues Leben anzufangen. Doro schreibt, Pia und Louisa wüssten Bescheid, ihre Sachen habe sie gepackt, sie lasse sie gegen 14 Uhr abholen, und in den nächsten Tagen werde er von ihrem Anwalt hören.
Meinetwegen fährst Du, jetzt spreche ich es doch aus, fährst Du zur Hölle! Mitsamt Unvermittelt sieht er den dunklen See im Jenseits vor sich, der Doro so viel Angst gemacht hatte.
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht, Wenn nur der Geruch nicht gewesen wäre! Als ob Doro vergessen hatte, das Blumenwasser zu wechseln, als ob die Stengel über Nacht zu faulen angefangen hatten und der Luft nun ein süßsaures Nebenaroma beimischten. Schepp witterte es auf der Stelle, dieses dezent Andere, das ihn inmitten des Gewohnten erwartete und den Morgen auf eine zarte Weise in Schräglage brachte. Die Dunkelheit seiner Träume hatte ihm mächtig zugesetzt, mehrmals in der Nacht war er vor Schreck hoch- und eben fast noch im Halbschlaf aus dem Bett hinausgefahren. (Seite 121) Schepp betritt sein Arbeitszimmer. Weil er keine Brille trägt, sieht er kaum etwas. (Gestern Nachmittag riet ihm der neue Augenarzt zu einer Operation.) Immerhin erschnuppert er Doros Geruch. Er bleibt hinter seiner Frau stehen. Sie hat offenbar das unvollständige Manuskript von "Marek, der Säufer" in der Hand, denn sie fragt ihn, warum er ihr nie etwas von seinem Versuch, einen Roman zu schreiben, erzählt habe.
"Sag mal, Doro, riechst du das auch? Ich meine, es stinkt so, als wär' da irgendwas gestorben, als läge unterm Sofa –" |
Buchbesprechung:
Dem fünfundsechzigjährigen Sinologen Hinrich Schepp brechen die Selbsttäuschungen weg, auf denen bis dahin die Fassade einer glücklichen Ehe mit Doro basierte. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2009
Matthias Politycki (kurze Biografie / Bibliografie) |