Bärbel Reetz: Die russische Patientin (Roman) |
Bärbel Reetz: Die russische Patientin |
Inhaltsangabe und Buchbesprechung:In ihrem Roman "Die russische Patientin" schildert Bärbel Reetz (*1942) tagebuchartig, wie sie nach Spuren von Sabina Nikolajewna Spielrein (1885 – 1942) sucht. Parallel dazu entwickelt sie mit Hilfe des gesammelten Materials ein Porträt der Russin, die 1904 als Patientin zu Carl Gustav Jung nach Zürich kam, weil sie unter nächtlichen Angstausbrüchen, Tics und zwanghaften Verhaltensweisen litt. Beinzuckungen, Herausstrecken der Zunge, ruckweises Rotieren des Kopfes, Grimassen, Abwehrbewegungen (Seite 53) Der aus Warschau stammende jüdische Vater Nikolai Arkadjewitsch Spielrein, der sich 1883 als Großhändler für Getreide und Kunstdünger in Rostow am Don niedergelassen und im Jahr darauf die ebenfalls jüdische Zahnärztin Eva Markowna Ljublinskaja geheiratet hatte, scheint seine älteste Tochter Sabina ebenso wie deren Geschwister – Jan, Oskar, Emilja, Emil – geprügelt zu haben, wenn er es aus erzieherischen Gründen für erforderlich hielt. Später erinnert sich Sabina an diese Mischung aus Furcht und Erregung, die sie erfasste, wenn der Vater die Hand hob, die Brüder zu schlagen. Oder sie selbst: Hose runter. Ihr Geschlecht. Ihr nacktes Hinterteil. Die Schläge. Der Schmerz. Und mehr: Zittern, Erregung. Bald schon genügt es, wenn er die Hand hebt, um sie in lustvolle Erwartung zu versetzen. Welch eine Beunruhigung. Verstörung. (Seite 27)
Mit Beginn der Pubertät begann das Mädchen exzessiv zu masturbieren und entwickelte im Lauf der Zeit immer stärker ausgeprägte neurotische Störungen. Nach dem glänzend bestandenen Abitur wurde Sabina Nikolajewna von ihrer Mutter und deren Bruder in das von Eugen Bleuler (1857 - 1939) geleitete Privatsanatorium "Burghölzli" bei Zürich gebracht, wo sie von dem zehn Jahre älteren Psychologen Carl Gustav Jung (1875 - 1961) mit der von Sigmund Freud (1856 - 1939) in Wien entwickelten psychoanalytischen Methode behandelt wurde. [...] Sabina Nikolajewna hatte, bei aller Faszination, die von ihr ausgegangen sein mochte, den wohlsituierten Privatdozenten oft genug mit ihrer Kompromisslosigkeit, dem Fehlen von Opportunität und äußerem Anstand erschreckt und hilflos gemacht. Darüber klagte er in einem Brief an Freud, nannte Spielrein rücksichtslos, sah in ihrem Verhalten eine "russische Eigenthümlichkeit", die ihn zugleich abstieß und magisch anzog. Ihre überbordenden Gefühlsäußerungen, ihr Schwanken zwischen Hochgefühl und Melancholie, ihr leidenschaftliches Eintreten für Ideale, ihre bedingungslose Liebe und Opferbereitschaft waren ihm jedoch fremd geblieben. Auch ihre politischen Ideen hatte er als weltfremd abgetan. Und oft genug entging ihm, so klagt sie im Tagebuch, dass er sie gekränkt, ihr Ehrgefühl verletzt, ihre Ambiti missachtet hatte. (Seite 194f) Erst als Jung einen Skandal befürchtete, beendete er das Verhältnis mit Sabina Spielrein (fing jedoch bald darauf mit einer weiteren Patientin – Antonia ("Toni") Wolff – eine neue Liebschaft an). Dann, am 4. Dezember 1908, sein Brief an die "Pension Hohenstein". Seine Reue, Angst, dass alles, was er erreicht hat, durch ihre Beziehung in Frage gestellt ist: die berufliche Karriere, seine Familie. Er klagt sich an, bittet sie, ihm zu verzeihen, dass er seine ärztlichen Pflichten vernachlässigte, ihr Hoffnungen gemacht hat. Schwach sei er und unbeständig, fürchtet sich, dass sie sich an ihm rächen wird, spricht wieder von dem Menschen, den er sucht, der ihn liebt und versteht, ohne ihn einzusperren und auszusaugen, und gibt zu, dass er des Glückes der Liebe, der stürmischen, ewig wechselnden Liebe, für mein Leben nicht entrathen kann [...] (Seite 234f)
Am 7. März 1909 schrieb Carl Gustav Jung an Sigmund Freud: "Sie [Sabina Spielrein] machte mir einen wüsten Skandal ausschließlich deshalb, weil ich auf das Vergnügen verzichtete, ihr ein Kind zu zeugen." (Seite 182) Die junge Frau wandte sich in ihrer Verzweiflung am 30. Mai 1909 ebenfalls an Sigmund Freud und bat ihn, sie zu empfangen, aber das lehnte der Wiener Begründer der Psychoanalyse zunächst ab.
Nein, sie ist nicht ruhig, nicht glücklich, ist krank vor Sehnsucht, zerrissen zwischen ihrer Liebe und der Notwendigkeit, die Tatsachen anzuerkennen: Frau, Kinder, eine bürgerlich sichere Existenz, die er nicht aufgeben will. (Seite 296) Sabina Spielrein studierte seit April 1905 an der medizinischen Fakultät der Universität Zürich. Anfang 1911 promovierte sie mit einer Dissertation "Über den psychologischen Inhalt eines Falles von Schizophrenie". Im Winter 1911/12 lernte sie den fünf Jahre älteren Arzt Dr. Feifel Notowitsch (Pawel Naumowitsch) Scheftel kennen. Die beiden heirateten am 1. Juni 1912 und ließen sich in Berlin nieder, wo im Dezember 1913 ihre Tochter Renata geboren wurde. Ich bin ihr nachgefahren. Eine neue Stadt. Eine andere Universität. Vorlesungen in Kunst- und Musikgeschichte. Keine Verbindung zur medizinischen Fakultät. Sie ist eine Ärztin ohne Patienten. Ist selbst wieder krank. Versucht sich zu heilen mit Farben, Formen, Tönen. Und kommt nicht los von den Gedanken an Liebe und Tod, den ewigen Kreislauf. Begegnet überall denselben Vorurteilen gegen Frauen, die einen anderen Weg einschlagen als den, den die Männer vorzeichnen. (Seite 17)
Als der Erste Weltkrieg ausbrach, zog Sabina Spielrein mit ihrer Tochter nach Lausanne; von 1921 bis 1923 lebte sie nacheinander in drei verschiedenen Wohnungen in Genf. Dann zog sie nach Moskau und im Jahr darauf nach Rostow. Ihr Mann, der inzwischen ein Verhältnis mit seiner Kollegin Olga Snetkowa hatte, die 1924 ein Kind von ihm bekam, kehrte schließlich wieder zu ihr zurück, und am 18. Juni 1926 wurde Sabina Spielrein von ihrer zweiten Tochter entbunden: Eva. Ich bin ungeduldig, ihr Haus, ihre Straße, ihre Stadt zu sehen, ihre Spuren zu suchen. Wer kennt hier noch ihren Namen? Wer erinnert sich? Werde ich Dokumente finden? Personen, die sie gekannt haben? (Seite 282) Auch wenn es keine klaren Erkenntnisse, gibt, protokolliert sie das. Ich frage, ob Sabina Nikolajewna auch an der Universität gelehrt hat. Vielleicht. Die [von Bärbel Reetz befragten] Psychologen zucken die Achseln. Kann sein. Kann aber auch nicht sein. (Seite 313)
Bärbel Reetz zitiert aus Briefen und Dokumenten. Hin und wieder macht sie sich eine Vorstellung über ein ungesichertes Detail im Leben von Sabina Spielrein, malt sich aus, wie es gewesen sein könnte. Einmal erzählt sie ausführlich, wie sie in Rostow auf einen ebenso unwilligen wie geldgierigen Archivar trifft (Seite 286ff). Sie gibt Hinweise auf Tagesereignisse (wie das Geiseldrama von Beslan am 3. September 2004), referiert Kurzbiografien anderer Patienten von C. G. Jung (z. B.: Otto Hans Adolf Gross, 1877 – 1920; Seite 13ff, 172f), die Sabina Spielrein gekannt haben könnten und beschreibt Impressionen von ihren Reisen nach Moskau und Rostow in den Jahren 2004 bzw. 2005 ("Schön sind die Mädchen [...] Die Röcke sehr kurz, die Beine sehr lang [...]" – Seite 300f). Auf den Seiten 261 bis 275 lesen wir ein "Solo mit E. – Eine Irritation". Es spielt 1903 bis 1933 in Zürich, Wien und Berlin, 1913 bis 1933 in Berlin und 1937/38 in Paris. Außer dem zwielichtigen Brüderpaar Mark Eitingon ("E.") und Naum Eitingon treten auf: Lew Trotzki, dessen Tochter Sinaida Wolkowa, der Trotzkist Adolf Abramowitsch Joffe, Nikolai Skoblin, ein ehemaliger General der Weißgardisten, dessen Ehefrau Nadeshda Wassiljewna Plewizkaja, Aron Steinberg, der Gründer der Freien Philosophischen Vereinigung in Petrograd, Alix Strachey, ein Mitglied des Bloomsbury Circle um Virgina Woolf, der ungarische Psychoanalytiker Sándor Rádo, Sigmund Freud, dessen Tochter Anna Freud, C. G. Jung und die Autorin. "Was hat das alles mit Sabina Nikolajewna zu tun?", fragt Bärbel Reetz selbst (Seite 94). |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2006
Sabina Spielrein (Kurzbiografie) |