Sven Regener: Neue Vahr Süd (Roman) |
Sven Regener: Neue Vahr Süd |
Inhaltsangabe:
Frank Lehmann wird im Herbst 1980 einundzwanzig Jahre alt und hat gerade eine Lehre in der Spedition abgeschlossen, in der auch sein Vater angestellt ist. Er wohnt noch bei seinen Eltern Ernst und Martha in dem Bremer Neubauviertel Neue Vahr Süd. Seine Mutter bessert das Haushaltseinkommen durch einen Halbtagsjob in einem Imbiss am Bahnhof auf. Franks vier Jahre älterer Bruder Manfred ("Manni") ging vor einiger Zeit nach Berlin und betätigt sich dort als Objektkünstler. Als Stammessen gab es serbisches Reisfleisch, und das war Frank gerade recht, denn er mochte das nicht oder jedenfalls nicht besonders, und gerade darum war es gut, dass es das heute gab, es wäre nicht richtig, dachte er, als er das Angebot studierte, heute noch etwas Leckeres, Gutes zu essen, wer weiß, was es morgen bei der Bundeswehr gibt, dachte er, und je höher man steigt, umso tiefer fällt man, und wenn es heute noch etwas extra Leckeres zum Mittag gibt, dann ist der Schock morgen nur um so härter. Diesen Gedanken fand er so bescheuert, dass er lachen musste [...] (Seite 23)
In der Mensa trifft er seinen Schulfreund Martin Klapp, der Deutsch und Sport auf Lehramt studiert. Schon seltsam, denkt Frank, dass Martin Sport studiert, obwohl er bei der Musterung als untauglich für den Dienst bei der Bundeswehr eingestuft wurde. Während Frank und Martin ihr Reisfleisch essen, kommt die Studentin, die Frank gerade mitgenommen hatte, zu ihnen an den Tisch. Sie heißt Sibille und geht offenbar hin und wieder mit Martin aus. "Die machen Brücken und legen Minen und so [...] Außerdem sprengen sie Brücken und räumen Minen wieder weg [...] Hab ich gehört [...]" (Seite 33)
In der Kaserne lernen die Rekruten als Erstes, dass sie den Mund zu halten haben. Falls sie angesprochen werden, müssen sie mit einem knappen Satz antworten, der mit "Herr" und dem Dienstgrad des Vorgesetzten endet. Außerdem gibt es das Wort "ja" nicht; bei der Bundeswehr heißt es stattdessen "jawohl", also zum Beispiel "Jawohl, Herr Hauptfeld!" Damit tut Frank Lehmann sich schwer: Immer wieder antwortet er auf eine Frage nur mit "ja, ja", und wenn er schon einmal nicht vergisst, sich beim Kompaniechef vorschriftsmäßig abzumelden, fügt er gedankenlos "Tschüss" hinzu.
[...] erst einmal nachdenken, dachte er, denn das hatte ihm bis jetzt am meisten gefehlt, nachdenken zu können, sich irgendwie einen Überblick darüber zu verschaffen, was in den letzten dreißig Stunden eigentlich passiert war, und wie er das alles einzuschätzen hatte. Aber auch jetzt, im ersten wirklich ruhigen Moment, seit er in der Kaserne war, fiel ihm das nicht leicht. Kein Wunder, dass keiner was sagt, dachte er wieder, man muss das alles ja auch mal in Ruhe überdenken, dachte er, aber das brachte ihn dabei natürlich nicht weiter, das ist innere Metadiskussion, dachte er, einen Begriff benutzend, den Martin Klapp neuerdings gerne benutzte, ich denke mehr über das Nachdenken und über Martin Klapp nach, dachte er, als über das, worum es eigentlich geht, es ist schwer, sich beim Nachdenken zu konzentrieren, dachte er, wenn man gleichzeitig über das Nachdenken nachdenkt, und wenn man über das Konzentrieren nachdenkt, kann man sich auch schlecht konzentrieren, komisch aber wahr, dachte er, dabei ist es wichtig, sich das alles mal in Ruhe durch den Kopf gehen zu lassen, versicherte er sich selbst, und darüber fiel ihm ein Film ein, den er neulich, in seinem früheren Leben als Zivilist, im Fernsehen gesehen hatte, irgend etwas mit einem deutschen U-Boot am Ende des Zweiten Weltkriegs, da waren zwei Japaner drauf gewesen, die Selbstmord begehen wollten, und der eine hatte gesagt: "Das Leben ist kurz", und der andere hatte gesagt: "Ja, kaum Zeit zum Nachdenken", und dann hatten beide geweint und sich umgebracht [...] so geht das nicht, dachte er, so kommt man nicht weiter mit dem Nachdenken, wenn man sich ständig selber ablenkt dabei, und um sich auf die richtige Bahn zurückzubringen, bat er Leppert um seinen Tabak, vielleicht hilft es, wenn man mal ein bisschen raucht, dachte er und drehte sich ungeschickt eine Zigarette, was aber keinem auffiel, denn Schmidt sagte nun plötzlich in ihr Schweigen hinein doch etwas, und der stille Moment war dahin. Als Frank Lehmann am ersten Wochenende nach Hause kommt, steht mitten in seinem Zimmer ein großes Fernsehgerät. Als er sich beim Abendessen darüber beschwert, erklärt ihm sein Vater, er versuche, den Fernseher von Tante Helga zu reparieren. "Naja", sagte Frank und versuchte, seine Erregung im Zaum zu halten, "ich bin gerade mal vier Tage weg und ihr räumt mein Zimmer um, ich meine, ihr stellt meinen Schreibtisch um und tut da einen Fernseher drauf, findet ihr das normal, oder was? Ich meine, das ist mein Zimmer!" Frank wurde langsam lauter, er redete sich in eine gewisse Rage hinein und konnte nichts dagegen machen. "Ich meine, das ist mein Zimmer", wiederholte er, "und ich bin vier Tage weg, und dann steht da der Fernseher von Tante Helga aufgeschraubt rum, und auf meinem Bett liegt die Rückseite von dem Ding und da liegen Werkzeuge rum, das muss man sich mal vorstellen, ich meine, das ist ja wohl überdeutlich!" (Seite 86) Frank Lehmann versteht den Fernseher in seinem Zimmer als Wink und beschließt, noch am selben Abend auszuziehen. Franks Mutter begann wieder ein bisschen zu weinen. "Das eigene Kind aus dem Haus zu treiben! Mit einem Fernseher!" (Seite 89)
Martin erzählte ihm in der Mensa, dass er gerade zusammen mit Ralf Müller und Achim Schwarz in eine Dreieinhalbzimmerwohnung zog, die noch renoviert werden muss. Martin, Ralf und Achim sind gerade dabei, vergilbte Tapeten von den Wänden zu reißen, als Frank zu ihnen kommt. Martins Zimmer ist nur durch ein vier Quadratmeter Durchgangszimmer zu erreichen, das er Frank gern abgibt, weil dieser ihm anbietet, die Hälfte seines Mietanteils zu übernehmen. Es erfüllt Frank Lehmann mit Stolz, dass er es endlich geschafft hat, aus der Neuen Vahr Süd herauszukommen. "So, Leute, jetzt kommt euer großer Moment, jetzt wählt ihr mal schön den Vertrauensmann [...] ich will hier eine schöne, freie, geheime Wahl, und vorher will ich eine schöne, freie, lebhafte Diskussion von euch, das ist jetzt eure Sache, da misch ich mich nicht lange ein, wer macht den Versammlungsleiter?" (Seite 151) Als sich niemand meldet, ruft der Hauptfeldwebel:
"Kranich, was ist mit Ihnen?" Der Hauptfeldwebel setzt sich auf einen Stuhl in einer Ecke, versichert Kranich, er werde sich jetzt heraushalten und fordert die Rekruten auf, so zu tun, als sei er gar nicht da.
"Ja also", sagte er [Kranich], "erst mal brauchen wir natürlich auch Kandidaten." Kranich wird als Kandidat vorgeschlagen.
"Ich?", sagte Kranich entsetzt, "nee, ich will das nicht."
Als der Name Lehmann fällt, hält dieser eine fulminante Rede darüber, dass es auch ein passives Wahlrecht gebe und man bei einer freien Wahl nicht zu einer Kandidatur gezwungen werden könne. Man habe auch das Recht, nicht gewählt zu werden. Überhaupt könne man die Rekruten nicht zwingen, einen Vertrauensmann zu wählen. Das Amt habe doch sowieso keinen Sinn. Unter großem Gejohle wird Frank Lehmann daraufhin gewählt. Aber das bringt nichts, dachte er dann, am Ende verliebt man sich noch, und dann wird das irgendwann extra bitter, dachte er. (Seite 194)
Zu seinen Aufgaben als Vertrauensmann gehört es, in Disziplinarfällen eine Stellungnahme abzugeben. Nachdem Pionier Reinboth nicht aus dem Wochenendurlaub in die Kaserne zurückkehrte und von den Feldjägern abgeholt werden musste, plädiert Frank für Straffreiheit, und zwar mit der Begründung, Reinboth habe "unbewusst die Aufmerksamkeit seiner Vorgesetzten auf seine Probleme lenken" wollen. Hauptmann Schickedanz betont zwar, dass er die Meinung des Vertrauensmannes nicht teile, aber er verhängt lediglich eine vierwöchige Ausgangssperre gegen Reinboth. Der schluckt kurz darauf Schlaftabletten und kommt in den Sanitätsbereich. Gerüchten zufolge hat er Liebeskummer.
"Herr Hauptfeld", ließ Frank sich jetzt nicht mehr irritieren, "Herr Hauptfeld, ich nehme das Gewehr …" – er machte eine kurze Pause, weil er rülpsen musste, und dabei musste er sich sehr konzentrieren, dass nichts von dem Whisky-Cola hinterherkam – "… nur unter Protest in die Hand!"
Mit fünf Wochen Verspätung trifft Frank Lehmanns G-Karte in der Kaserne ein. Damit kann nun endlich die Einstellungsuntersuchung nachgeholt werden. Der Arzt stellt fest, dass er gar nicht bei den Pionieren hätte anfangen dürfen, denn Frank ist nur eingeschränkt tauglich. Eine Versetzung wird erforderlich sein. |
Buchbesprechung:
In "Neue Vahr Süd" erzählt Sven Regener die Vorgeschichte zu seinem erfolgreichen und von Leander Haussmann 2003 verfilmten Debütroman "Herr Lehmann" (Eichborn-Verlag, Berlin 2001). "Neue Vahr Süd" spielt 1980, also neun Jahre vor "Herr Lehmann", aber es geht um dieselbe Figur. Frank Lehmann hat es in seiner Ambitionslosigkeit versäumt,
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005 / 2010
Hermine Huntgeburth: Neue Vahr Süd |