Gregor von Rezzori: Kain. Das letzte Manuskript (Roman) |
Gregor von Rezzori: Kain. Das letzte Manuskript |
Inhaltsangabe:
In einem (fiktiven) Vorwort erläutert der Herausgeber "G. v. R.", dass es sich bei dem Text des vorliegenden Buches um ein dreißig Jahre lang verschollenes Manuskript des Drehbuchautors Aristides Subicz handelt, der einen Roman schreiben wollte. Gefunden wurde die "Mappe C" von dem Rechtsanwalt Dr. Fritz Engelhardt in einem Haus am Tegernsee, das dieser 1999 von dem Filmproduzenten und Möchtegern-Verleger Heinz Wohlfahrt erworben hatte, der aus dem Land geflohen war, weil man ihn wegen Betrugs und Steuerhinterziehung suchte. Aristides Subicz lebte zu diesem Zeitpunkt nicht mehr: Er hatte am 13. Januar 1968, etwa dreißig Kilometer von Avignon entfernt, die Kontrolle über sein Auto verloren und war tödlich verunglückt. Mir traeumte, ich sei ein Schmetterling, dem traeumte, er sei ein Mensch. Nun weiß ich nicht mehr: Bin ich ein Mensch, der traeumt, er sei ein Schmetterling, oder der vom Schmetterling ertraeumte Mensch? (Seite 22) Der Germanist Dr. Wieland Haslitzsch, von dem Wohlfahrt das Material in Mappe C hatte prüfen lassen, schrieb darüber: In ganz bestimmter Absicht sind hier Ereignisse und ihr erfahrungsmäßiger Eindruck auf den Erlebenden so ausgewählt und angeordnet, dass die Täuschung entsteht, es handle sich um eine erste Sichtung von Entwürfen, Anfängen, Versuchen, zusammengetragen zur Überprüfung auf Eignung als Buchmaterial für ein später zu schreibendes Buch. (Seite 20) G. v. R., der Herausgeber des Buches, wiederum urteilt über die von Aristides Subicz hinterlassene Mappe C folgendermaßen: Liest man nur wenige Blätter aus der Mappe C, so ist man unverzüglich im Bann des darin Erzählten und muss zugeben, dass die anscheinend zufällige und heterogene Zusammenstellung der Aufzeichnungen in Wahrheit ein planvoll strukturiertes und in sich abgeschlossens literarisches Produkt darstellt, dessen Anspruch auf unmittelbare Glaubwürdigkeit durchaus berechtigt ist [...] Gewiss ist das Motiv der fragmentarischen und auf den ersten Blick unzusammenhängend erscheinenden Aufzeichnungen in Mappe C das gleiche wie im "Abel", nämlich der Versuch, dem Schreiben – das heißt: dem Romanschreiben, also der glaubwürdigen Erfindung von Wirklichkeit – auf den Grund zu gehen. (Seite 12) Die in Mappe C gesammelten Blätter beginnen mit einem langen Monolog, in dem es u. a. heißt: [...] Hertzogs Patienten [...] haben ganz Recht, wenn sie sich einen Hauspsychiater anschaffen, dabei waren sie vorher wirklich nett, waren früher einmal wirkliche Freunde, echte Kumpels, mit Kohldampf und ohne Zukunftsstaat einfach nette Menschen, ich bin gern hier herausgetippelt, so schwer mir's mit dem abben Bein geworden ist, ihr Scheiß-Rübenschnaps und ihre beschissenen handgewebten Zigaretten waren's bestimmt nicht weshalb, also eine Scheiße ist das alles, dazu wollen sie also auch noch den lieben Heiland einladen: Komm Herr Jesus, sei unser Gast und segne die Scheiße, die du uns bescheret hast! und mit dem gleichen Atemzug schwören sie auf Karl Marx, Genossen hört die frohe Kunde: das Christkind ist der eigentliche Gründer der klassenlosen Gesellschaft, ein Modellfall von gestilltem metaphysischem Bedürfnis: immer in regem Kontakt mit dem transzendalen Herrn Papa und dabei dank einer jungfräulichen Mutti gänzlich ohne Ödipuskomplex [...] (Seite 28) Die Collage von Texten liest sich wie eine Autobiografie von Aristides Subicz, der 1919 in Bessarabien als unehelicher Sohn von Ilse Subicz geboren wurde, einer Edelkokotte mit dem "nom de plumeau" Maud. Er hatte mindestens ein Dutzend hypothetischer Väter. Der Mann, der uns diese ohne Zweifel zum allergrößten Teil getreulich autobiografischen Aufzeichnungen hinterlassen hat, wurde 1919, also kurz nach dem Ersten Weltkrieg, im damals zu Rumänien gekommenen Bessarabien geboren, verbrachte – wenn es vielleicht auch angeraten sein mag, das doch eher symbolisch aufzufassen – eine prinzliche Kindheit unter äußerst feudalen Umständen auf Landgütern dort und in den Villen seiner diversen "Onkel" – sprich: den Liebhabern seiner leichtlebigen Mutter – an der Côte d'Azur, kam nach deren frühzeitigem Tod verwaist und vergessen von den Gönnern dieser schönen Frau [...] zu Verwandten nach Wien und "welkte", wie er sich bitterlich sarkastisch ausdrückt, durch ein Dutzend albtraumhafter Bildungsjahre im brütenden Stumpfsinn verschiedener drittrangiger Schulen in den Wiener Außenbezirken und daheim in den in jeder Hinsicht engen Verhältnissen der durch den Krieg, die Inflation und einen sozusagen schwelenden Sozialismus heruntergekommenen "Stehkragenbourgeoisie" – bis 1937, wenige Monate vor dem Anschluss Österreichs ans Dritte Reich, die jüdische Ehefrau eines der legendären Schutzherren seiner Kindheitstage (die Stella der Manuskripte, Gattin des zwielichtigen britischen Diplomaten John) ihn auffindet und, indem sie sich seiner mehr als nur mütterlich annimmt, sein "Dasein wieder zum Blühen bringt" – eine Wohltat, die sie vier Jahre später mit dem Leben bezahlen soll. (Seite 37) Die Staatsangehörigkeit bzw. Staatenlosigkeit von Aristides Subicz verwirrt immer wieder andere Personen. Davon zeugt der folgende Dialog:
"Als Rumäne müssen Sie doch in Stalingrad gewesen sein. Waren doch unsere Waffenbrüder. Oder?"
Den Sommer 1938 verbrachte Aristides Subicz mit seiner Geliebten Stella an einem See im Salzkammergut. Bei Stella handelte es sich um eine rumänische Jüdin, die einen britischen Diplomaten mit Vornamen John geheiratet hatte, der möglicherweise Aristides Subicz' leiblicher Vater war.
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Buchbesprechung:
Kurz bevor Gregor von Rezzori (1914 – 1998) am 23. April 1998 – drei Wochen vor seinem 84. Geburtstag – in der Toskana starb, hatte er die Fertigstellung eines Romans angekündigt, mit dem er seit fünfzehn Jahren beschäftigt gewesen war: eine Fortsetzung seines 1976 veröffentlichten Romans "Der Tod meines Bruders Abel". Tilman Spengler, der Nachlassverwalter des Schriftstellers, brachte den neuen, unvollendeten Roman 2001 unter dem Titel "Kain. Das letzte Manuskript" im Verlag C. Bertelsmann heraus.
Es gehe dabei gar nicht darum, ob und dass kein einziger Deutscher jemals ein Nazi gewesen sein will, obwohl die Zahl der ehemaligen Parteimitglieder mit dieser Behauptung in "jeradezu bröllendem Widerspruch" stehe; das, sagt Roenne, sei nur zu durchsichtig ein Akt der Feigheit und Charakterlosigkeit, mit einem Wort, des Opportunismus, daran glaube ohnehin keiner. Tatsächlich eine historisch irreführende Fälschung; Anlass dazu gegeben – und wenn man wolle, sogar eine Entschuldigung dafür – habe die Darstellung des Nationalsozialismus als Verkörperung alles Bösen und Unmenschlichen von vornherein. Anfangs habe der Nationalsozialismus sich keineswegs als verbrecherische Bewegung ausgenommen. Im Gegenteil: voll der Verheißung [...] Die Gewalttätigkeiten der Anfangszeit lagen in eben der Zeit. Die Epoche habe a priori zur Gewalttätigkeit geneigt [...] Der Roman "Kain. Das letzte Manuskript" zeichnet sich nicht zuletzt durch originelle Einfälle, Witz und Sarkasmus aus, etwa wenn Aristides Subicz über seine Ehefrau Christa schreibt: Seit S. [Johannes Schwab] ins Haus kommt, scheint in Christa wieder ein gewisses Interesse für mich erwacht zu sein. "Wie bei der Entdeckung", sage ich zu ihr, "dass ein alter bemalter Nachttopf auch als Blumenvase verwendet werden kann." (Seite 104) Zu bemängeln sind Druckfehler, von denen einige so verwirrend sind, dass man erst bei mehrmaligem Lesen der entsprechenden Passage begreift, was Gregor von Rezzori tatsächlich gemeint hat. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2006
Gregor von Rezzori (Kurzbiografie) |