Joseph Roth: Radetzkymarsch (Roman) |
Joseph Roth: Radetzkymarsch |
Inhaltsangabe:Am 24. Juni 1859 kämpfen die Österreicher bei Solferino südlich des Gardasees gegen Piemontesen und Franzosen. In einer Kampfpause hebt der achtundzwanzigjährige Kaiser Franz Joseph I. einen Feldstecher, um sich umzusehen. [...] wer einen Feldstecher hob, gab [...] zu erkennen, dass er ein Ziel sei, würdig getroffen zu werden. (Seite 10)
Ein junger Infanterieleutnant reißt den Kaiser zu Boden, und wird im nächsten Augenblick von der dem Kaiser zugedachten Kugel in die linke Schulter getroffen. Dafür, dass der aus dem Dorf Sipolje stammende slowenische Offizier ihm das Leben gerettet hat, befördert Kaiser Franz Joseph ihn zum Hauptmann, verleiht ihm den Maria-Theresia-Orden und erhebt ihn in den Adelsstand: Joseph Trotta von Sipolje darf dieser sich jetzt nennen. "Aber schlecht kommen wir beide dabei nicht weg! Lassen S' die Geschicht'!" (Seite 21)
Trotta reicht jedoch seinen Abschied bei der Armee ein. Durch die Gunst des Kaisers wird er als Major entlassen, in den Freiherrnstand erhoben und erhält für seinen Sohn ein Stipendium. Joseph Trotta Freiherr von Sipolje zieht sich auf das kleine Gut seines Schwiegervaters in Böhmen zurück. Manchmal schwenkte der Bezirkshauptmann ein bisschen den Stock, es war die Andeutung eines Übermuts [...] (Seite 52f) Jeden Sonntag gibt es Tafelspitz, und am Nachmittag macht der Kapellmeister Nechwal, der sonntags immer den Radetzkymarsch von Johann Strauß Vater dirigiert, dem Bezirkshauptmann seine Aufwartung. Er [Nechwal] hatte drei Kinder und eine Frau "aus einfachen Verhältnissen", aber er selbst stand im vollsten Glanz der Welt, losgelöst von den Seinen. Er genoss und erzählte jüdische Witze mit pfiffigem Behagen. Der Bezirkshauptmann verstand sie nicht, lachte auch nicht, sagte aber: "Sehr gut, sehr gut!" – "Wie geht es Ihrer Frau Gemahlin?", fragte Herr von Trotta regelmäßig. Seit Jahren stellte er diese Frage. Er hatte Frau Nechwal nie gesehen, er wünschte auch nicht, der "Frau aus einfachen Verhältnissen" jemals zu begegnen. Beim Abschied sagte er immer zu Herrn Nechwal: "Empfehlen Sie mich Ihrer Frau Gemahlin, unbekannterweise!" Und Herr Nechwal versprach, die Grüße auszurichten, und versicherte, dass sich seine Frau sehr freuen würde. "Und wie geht es Ihren Kindern?", fragte Herr von Trotta, der immer wieder vergaß, ob es Söhne oder Töchter waren. "Der Älteste lernt gut!", sagte der Kapellmeister. "Wird wohl auch Musiker?", fragte Herr von Trotta mit leiser Geringschätzung. (Seite 43f)
Carl Joseph, der Sohn des Bezirkshauptmanns, der seinen Großvater nur von dem an einer Wand hängenden Porträt her kennt, wird eines Tages von Katharina ("Kathi") Luise Slama, der Ehefrau des Wachtmeisters Slama, verführt. Fast jeden Nachmittag schleicht der Jugendliche sich von da an zu seiner Geliebten. Der Bezirkshauptmann saß in seinem Arbeitszimmer. "Mach dir's bequem!", sagte er. Er legte den Zwicker ab, zog die Augenlider zusammen, erhob sich, musterte seinen Sohn und fand alles in Ordnung. Er umarmte Carl Joseph, sie küssten sich flüchtig auf die Wangen. "Nimm Platz!", sagte der Bezirkshauptmann und drückte den Leutnant in einen Sessel. Er selbst ging auf und ab durchs Zimmer. Er überlegte einen passenden Anfang. Ein Tadel war diesmal nicht anzubringen, mit einem Ausdruck der Zufriedenheit konnte man nicht beginnen. (Seite 51) Als Katharina Slama stirbt, gehört es sich, dass auch der Sohn des Bezirkshauptmanns dem Witwer einen Kondolenzbesuch abstattet. Beide Männer versuchen ihre Verlegenheit zu überspielen. Der Wachtmeister bittet den Baron in den Salon und bewirtet ihn mit Himbeerwasser. Als der Leutnant bereits wieder am Gartentor ist, reicht der Wachtmeister ihm ein Päckchen mit den Briefen, die Carl Joseph seiner Geliebten geschrieben hatte. Er hält ein blaues Päckchen kreuzweis mit silbernen Bindfaden verschnürt. "Das ist für Sie, Herr Baron!", sagt er, die Augen niedergeschlagen. "Bitte um Entschuldigung! Der Herr Bezirkshauptmann hat's angeordnet. Ich hab's damals gleich hingebracht. Der Herr Bezirkshauptmann hat's schnell überflogen und gesagt, ich soll's persönlich übergeben!" (Seite 78)
Das Leben der Offiziere spielt sich zwischen dem Exerzierplatz und dem Kasino ab. Zwischendurch besuchen sie das Bordell der Resi Horwath, die den Radetzkymarsch auf dem Klavier klimpern lässt, sobald die Herren auftauchen. "Es ist etwas nicht mehr Zeitgemäßes, entschuldigen Sie schon, an diesem Ehrenkodex! Wir sind immerhin im zwanzigsten Jahrhundert, bedenken Sie! Wir haben das Grammophon, man telefoniert über hundert Meilen, und Blériot und andere fliegen sogar schon in der Luft! Und, ich weiß nicht, ob Sie auch Zeitung lesen und in der Politik beschlagen sind: man hört so, dass die Konstitution gründlich geändert wird. Seit dem allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrecht ist allerlei vorgegangen, bei uns und in der Welt." (Seite 162f) In der Nähe des Jägerbataillons ist auch noch ein Dragonerregiment stationiert, und in den Wäldern entlang der Grenze reiten die Sotnias der Grenzkosaken. Die Offiziere treffen sich montags und donnerstags bei dem vierzigjährigen Grafen Wojciech Chojnicki zu einem "kleinen Abend", und einmal im Monat veranstaltet der Aristokrat ein größeres Fest – allerdings nur im Sommer, denn die Wintermonate verbringt Chojnicki an der Riviera. Seit Jahren war er Reichsrats-Abgeordneter, regelmäßig wiedergewählt von seinem Bezirk, alle Gegenkandidaten schlagend mit Geld, Gewalt und Überrumpelung, Günstling der Regierung und Verächter der parlamentarischen Körperschaft, der er angehörte. Er hatte nie eine Rede gehalten und nie einen Zwischenruf getan. Ungläubig, spöttisch, furchtlos und ohne Bedenken pflegte Chojnicki zu sagen, der Kaiser sei ein gedankenloer Greis, die Regierung eine Bande von Trotteln, der Reichsrat eine Versammlung gutgläubiger und pathetischer Idioten, die staatlichen Behörden bestechlich, feige und faul. Die deutschen Österreicher waren Walzertänzer und Heurigensänger, die Ungarn stanken, die Tschechen waren geborene Stiefelputzer, die Ruthenen verkappte und verräterische Russen, die Kroaten und Slowenen, die er "Krowoten und Schlawiner" nannte, Bürstenbinder und Maronibrater und die Polen, denen er ja selbst angehörte, Courmacher, Friseure und Modefotografen. (Seite 183) Statt "Seine Majestät" sagt Chojnicki einfach "Franz Joseph", wenn er vom Kaiser spricht. Der Graf befürchtet, dass das Habsburger Reich "in hundert Stücke" zerfällt, sobald Franz Joseph I. tot ist: "Der Balkan wird mächtiger sein als wir. Alle Völker werden ihre dreckigen kleinen Staaten errichten, und sogar die Juden werden einen König in Palästina ausrufen. In Wien stinkt schon der Schweiß der Demokraten [...]" (Seite 184) Als Baron Franz von Trotta und Sipolje einmal seinen Sohn in der Garnisonsstadt besucht und Graf Chojnicki reden hört, meint er verwirrt: "Wie sollte die Monarchie nicht mehr da sein?" "Natürlich!", erwiderte Chojnicki. "Wörtlich genommen, besteht sie noch. Wir haben noch eine Armee" – der Graf wies auf den Leutnant – "und Beamte" – der Graf zeigte auf den Bezirkshauptmann. "Aber sie zerfällt bei lebendigem Leibe. Sie zerfällt, sie ist schon zerfallen! Ein Greis, dem Tode geweiht, von jedem Schnupfen gefährdet, hält den alten Thron, einfach durch das Wunder, dass er auf ihm noch sitzen kann. Wie lange noch, wie lange noch? Die Zeit will uns nicht mehr! Diese Zeit will sich erst selbstständige Nationalstaaten schaffen! Man glaubt nicht mehr an Gott. Die neue Religion ist der Nationalismus. Die Völker gehn nicht mehr in die Kirchen. Sie gehn in nationale Vereine. Die Monarchie, unsere Monarchie, ist gegründet auf der Frömmigkeit: auf dem Glauben, dass Gott die Habsburger erwählt hat, über soundso viele christliche Völker zu regieren. Unser Kaiser ist ein weltlicher Bruder des Papstes, es ist Seine k. u. k. Apostolische Majestät, keine andere als er: apostolisch, keine andere Majestät in Europa so abhängig von der Gnade Gottes und vom Glauben der Völker an die Gnade Gottes." (Seite 217) Einige Zeit später stirbt Jacques, der inzwischen zweiundachtzig Jahre alte Diener des Bezirkshauptmanns, der erst jetzt erfährt, dass der Bedienstete, den er von seinem Vater übernommen hatte, gar nicht Jacques hieß, sondern Franz Xaver Joseph Kromichl. Baron Franz von Trotta und Sipolje sucht nach Ersatz, aber damit tut er sich schwer. Es erwies sich jedoch schon nach einigen Tagen, dass die Aloise, die Alexanders, die Josephs und die anderen auf den großen Namen Jacques nicht hören wollten. (Seite 307)
Leutnant Trotta bürgt für Darlehen, die Hauptmann Wagner immer wieder bei einem Mann namens Kapturak aufnimmt, und zwar in der Hoffnung, das beim Spiel verlorene Geld durch neue Einsätze zurückgewinnen zu können. Sie überfiel ihn mit ihrer gewaltsamen Sehnsucht, jung zu werden. (Seite 271)
Nach seiner Rückkehr schlägt Leutnant Trotta mit seinem Zug zögerlich eine Demonstration streikender Arbeiter nieder. Tote und Verletzte bleiben auf der Straße liegen. Trotta selbst wird mit einem Schädelbruch und einer Fraktur des linken Schlüsselbeins (!) ins Spital gebracht, wo er auch noch an einer Gehirnhautentzündung erkrankt. Oppositionspolitiker in Wien verlangen eine Untersuchung gegen ihn und das Jägerbataillon, aber Kaiser Frank Joseph I. entscheidet: "Günstig erledigen." "Ich erinnere mich noch gut an Ihren Vater!", sagte der Kaiser zu Trotta. "Er war sehr bescheiden, der Held von Solferino!" – "Majestät", erwiderte der Leutnant, "es war mein Großvater!" (Seite 303)
Wegen geplatzter Wechsel von spielsüchtigen Kameraden, aber auch eigenen Ausgaben, beispielsweise für seine Geliebte in Wien, schuldet Trotta dem Geldverleiher Kapturak schließlich 7250 Kronen. Als dieser auf einer zumindest teilweisen Rückzahlung besteht, gerät der Leutnant in Wut und zieht seinen Säbel.
"Ah so, ah so!", sagte der Kaiser. "Das ist der junge Mann, den ich bei den letzten Manövern gesehen hab! Ein braver Mensch!" Und da sich seine Gedanken etwas verwirrten, fügte er hinzu: "Er hat mir beinah das Leben gerettet. Oder waren Sie es?" Plötzlich fällt dem Kaiser ein, dass er wegen der bevorstehenden Abreise nach Ischl in Eile ist.
"Es ist gut! Es wird alles erledigt! Was hat er denn angestellt? Schulden? Es wird erledigt! Grüßen Sie Ihren Papa!" Die Schulden des Leutnants werden beglichen, und Kapturak muss die Garnisonsstadt verlassen. Nach diesem unverdient glücklichen Abschluss der Affäre teilt Carl Joseph von Trotta seinem Vater mit, er wolle seinen Dienst bei der Armee quittieren. Der Bezirkshauptmann fragt seinen Schachpartner Dr. Skowronnek um Rat, und der zeigt Verständnis für die Absicht des Leutnants.
"Er könnte", meinte Doktor Skowronnek, "vielleicht bei der Eisenbahn unterkommen!" In die Vorbereitungen eines Sommerfestes in B. platzt das Gerücht, auf Erzherzog Franz Ferdinand und dessen Gemahlin Sophie sei am 28. Juni 1914 in Sarajewo ein Attentat verübt worden. Unvermittelt wechseln die magyarischen Offiziere ins Ungarische, und als der slowenische Rittmeister Jelacich sie ermahnt, die Unterhaltung auf Deutsch fortzusetzen, entgegnet Graf Benkyö in deutscher Sprache: "Wir sind übereingekommen, meine Landsleute und ich, dass wir froh sein können, wann das Schwein hin ist!" (Seite 400)
Trotta erhält seinen Abschied und zieht in ein Häuschen des Grafen Chojnicki, das er sich mit dem Unterförster Jan Stepaniuk teilen muss. Als Gegenleistung kümmert er sich um die Abrechnungen des Grafen für die Lohnarbeiter und den Bedarf der Gäste. |
Buchbesprechung:
Der Radetzkymarsch, nach dem Joseph Roth seinen Roman benannte, wurde von Johann Strauß Vater (1804 - 1849) komponiert und am 31. August 1848 in Wien uraufgeführt. Joseph Wenzel Graf Radetzky von Radetz (1766 - 1858) hatte maßgeblichen Anteil am Sieg der Koalitionstruppen gegen Napoleon in der Völkerschlacht bei Leipzig (16. - 19. Oktober 1813). 1831 übernahm er das Kommando über die österreichischen Truppen in Oberitalien, und von 1850 bis 1857 war er Generalgouverneur von Lombardo-Venetien.
Unter dem Titel "Die Kapuzinergruft" veröffentlichte Joseph Roth 1938 eine Fortsetzung seines Romans "Radetzkymarsch".
Originaltitel: Radetzkymarsch – Regie: Axel Corti, Gernot Roll – Drehbuch: Georges Conchon, Axel Corti, Louis Gardel, Jean Lagache, Erik Orsenna, nach dem Roman "Radetzkymarsch" von Joseph Roth – Kamera: Gernot Roll – Schnitt: Ulrike Pahl – Musik: Zbigniew Preisner – Darsteller: Max von Sydow, Charlotte Rampling, Claude Rich, Tilman Günther, Jean-Louis Richard, Julia Stemberger, Elena Sofia Ricci u.a. – 1994; 255 Minuten
|
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005
Joseph Roth (Kurzbiografie) |