Gilles Rozier: Eine Liebe ohne Widerstand (Roman) |
Gilles Rozier: Eine Liebe ohne Widerstand |
Inhaltsangabe:
Gilles Rozier lässt uns über das Geschlecht der Ich-Erzählerfigur im Unklaren. Um Formulierungen wie "der Erzähler bzw. die Erzählerin" und "er/sie" zu vermeiden, wird für die folgende Inhaltsangabe ebenfalls die erste Person Singular verwendet. Mit "ich" ist also Roziers Erzählerfigur gemeint.
Fotografiert hat Volker Hammerschimmel, ein SS-Mann. Er bumste meine Schwester Anne, verzeihen Sie den Ausdruck, aber ein anderer fällt mir dazu nicht ein. Sie brüllte vor Lust, oben im ersten Stock [...] Der Krieg war so trostlos, man musste sich irgendwie amüsieren. Meine Schwester war noch in Trauer, die Arme. Sie bumste, um zu vergessen [...]
Mein Vater war schon vor dem Krieg "nicht richtig anwesend": Tagsüber ging er arbeiten, abends und sonntags beschäftigte er sich im Garten, und im Winter füllte er im Keller den Wein in Flaschen; er lebte in einer anderen Welt. War Hans-Joachim Jude? Dieser Gedanke war mir nie gekommen. Er war so deutsch, so schön. (Seite 137) Nach meiner Rückkehr aus Deutschland unterrichtete ich halbtags im Mädchengymnasium unserer Stadt und verdiente nebenbei noch etwas Geld mit Nachhilfestunden. Zu meinen Privatschülern und -schülerinnen gehörte auch Claude, das jüngste von sechs Kindern eines Händlers "mit dem Drang nach Anerkennung" (Seite 34). Nicht aus eigenem Antrieb, sondern auf Wunsch beider Elternpaare heirateten Claude und ich 1936.
[...] ich war außerstande, diesen fremden Körper zu berühren oder an mich heranzulassen. Der bloße Gedanke erfüllte mich mit Entsetzen, und ich war Claude dankbar, dass mir diese Prüfung erspart blieb. Ich hätte nicht sagen können, dass Claudes Körper mich abstieß, er weckte nichts in mir, weder Begehren noch Abneigung. (Seite 35) Gegen Vorhaltungen meines Schwiegervaters nach der Hochzeit verwahrte ich mich. Ich hatte eingewilligt, sein Kind zu heiraten, aber ich hatte nicht geschworen, mich mit ihm zu paaren. (Seite 31) Trotz miserabler Schulzeugnisse erhielt Claude eine Stelle in der Buchhaltung einer Holztransportfirma. Wir wohnten in meinem Elternhaus bei meiner Mutter und meiner Schwester Anne. Da Claude keine Bücher las, sprachen wir nicht viel miteinander. Claude hatte ganz bestimmt ein Innenleben, wer hat das nicht?, aber ich machte mir nicht die Mühe, es zu entdecken, lieber genoss ich den raschen Verfall von Gregor Samsa [...] (Seite 36f) Nach Kriegsbeginn versteckte ich meine Exemplare der von den Nationalsozialisten verfemten deutschen Schriftsteller in einem durch Bretter abgeteilten Verschlag in der dunkelsten Ecke des Weinkellers. Die Öffnung, durch die ich auf allen Vieren kriechen musste, tarnte ich durch einen Stapel leerer Kisten. Von klein auf hatte ich mir angewöhnt, alles zu verstecken: meine Leidenschaften, meine Ängste, meine Enttäuschungen. Meine Mutter war mein Vorbild gewesen. Bei uns entblößte man sich nicht. Deshalb war diese schwarze Liste der Schriftsteller geradezu ein Glücksfall, der mir die Möglichkeit gab, einen stillen Raum zum Lesen zu schaffen, heimlich, und heißt das nicht in Freiheit? (25) Während des "drôle de guerre" übersetzte ich nachmittags, nach der Schule, Artikel der NS-Presse für den französischen Generalstab. Ein junger Soldat mit ausländischem Akzent brachte mir die Dokumente, wartete während des Übersetzens vor der Tür und sang dabei Nocturnes von Frédéric Chopin. Mein Patriotismus war so wie bei den meisten: flau. (Seite 43)
Während des Unterrichts beobachtete ich durch die Fenster des Klassenzimmers mehrmals, wie man jüdische Schüler abführte, auch, wie der kleine Lachman losrannte und erschossen wurde. Zu einem Zeitpunkt, als die Alliierten bereits in Nordafrika gelandet waren, tauchten der Rektor und zwei Deutsche in Gestapo-Uniformen im Klassenzimmer auf. Sie nahmen mich mit zum Hôtel des Barres, wo die Gestapo residierte. Nach stundenlangem Warten forderte mich der Gestapo-Ortskommandant auf, Übersetzungsarbeiten für die Deutschen zu erledigen. Jede Woche holte ich die Sachen im Hôtel des Barres ab und brachte die Übersetzungen hin. Ich sagte Madame Pelloux, wie sehr ich ihre Tochter schätzte, das war nicht ganz richtig, aber das Buch von Herman zu beschaffen war mehr wert als die Wahrheit. (Seite 85)
Unter einem Vorwand erreichte ich, dass ich einmal aufgefordert wurde, in dem leer stehenden Mansardenzimmer zu übernachten. Dort fand ich tatsächlich das versteckte Buch. Als ich es Herman am nächsten Tag brachte, umarmte er mich gerührt; wir sanken auf den Boden und liebten uns. Von da an schlich ich mich jede Nacht in den Keller, um mit Herman über Literatur zu reden und mit ihm zu schlafen. Volker [...] war gestorben wie eine Kuh im Schlachthof, ein Axthieb und Schluss, ohne ein Muh. (Seite 149)
Ich zog ihn aus und wunderte mich darüber, dass sein Penis ganz normal aussah, denn aufgrund von Annes Lustschreien hatte ich angenommen, dass der SS-Mann über besonders große Genitalien verfügen müsse. Ich schleifte die nackte Leiche in den Keller und forderte Herman auf, sie im Boden zu vergraben. Weil ich mit dem Säubern des Bodens noch nicht fertig war, als Mutter nach Hause kam, begriff sie, was ich getan hatte. Aber sie schwieg. Bis zu ihrem Tod vierundzwanzig Jahre später sprach sie nie ein Wort über den Mord. Anne raste vor Wut, weil sie annahm, dass Volker – wie andere Nationalsozialisten auch – ohne ein Wort des Abschieds vor den nur noch hundert Kilometer entfernten Alliierten geflohen war. Ein Angriff der Résistance, die ein paar Tage vor der Befreiung noch einen SS-Mann erlegen wollte. (Seite 160) Die im Keller versteckten Bücher holte ich auch nach dem Krieg nicht herauf. Ich wohne auch jetzt noch – zwanzig Jahre nach meiner Pensionierung – in dem Haus. Vater kam nach sechs Jahren aus der Kriegsgefangenschaft zurück. Nicht von ihm, sondern von einem Gebrauchtwagenhändler erfuhr ich, dass er in Deutschland eine Geliebte gehabt hatte: die Bäuerin auf dem Hof, wo er zur Zwangsarbeit eingeteilt worden war. Inzwischen sind Vater und Mutter längst tot; Anne raste bei einem Überholmanöver frontal in einen Lastwagen und kam dabei ums Leben.
Da ist noch ein Platz auf dem Friedhof, in der Familiengruft [...] Sie warten nur noch auf mich. Aber was habe ich mit diesen Leuten zu tun? Mein Platz ist neben Herman, nirgendwo. Ich habe ein Testament auf einen Zettel gekritzelt [...] Ich habe um die Einäscherung gebeten, das wird mein letztes Gedenken an Madame Bloch sein. (Seite 166) |
Buchbesprechung:
Was geschah, erfahren wir von einer namenlosen, hybriden Erzählerfigur, die sich Jahrzehnte später an die Ereignisse während des Zweiten Weltkriegs in einer französischen Provinzstadt erinnert. Es handelt sich nicht gerade um einen Helden bzw. eine Heldin,
Während ich in diesen Berufsjahren neben mir her lebte, begeisterte ich mich für die jiddische Sprache, die Sprache meines Großvaters Moyshe, ermordet in Auschwitz, meiner Großmutter Yokhved, gestorben in Paris im Jahre 1942 [...] Zur Zeit spreche ich jiddisch. Ich habe das Deutsche verlernt, um die Sprache von Moyshe zu lernen. Dennoch spreche ich die Sprache von Goethe und Goebbels gut. (Gilles Rozier. Quelle: Informationsblatt des Verlags) |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2004 |