Salman Rushdie: Shalimar der Narr (Roman) |
Salman Rushdie: Shalimar der Narr |
Inhaltsangabe:
Das kaschmirische Dorf Pachigam ist bekannt für seine Köche und Gaukler. Der Dorfvorsteher heißt Abdullah Sher Noman. Er und seine Frau Firdaus haben vier Söhne: die Zwillingsbrüder Hameed und Mahmood, den zweieinhalb Jahre jüngeren Anees und Noman. Als letzterer neun Jahre nach den Zwillingen geboren wurde, kam gerade auch Pamposh ("Giri") Kaul mit einem Mädchen nieder, obwohl sie erst im siebten Monat war. Giri starb dabei, und der Witwer Pyarelal Kaul ("Toorpoyn") musste seine Tochter Bhoomi ("Boonyi") allein aufziehen. Natürlich bist du entehrt [...] Immerhin habe ich den Rat wissen lassen, dass ich bereit sei, deine Ehre zu retten, indem ich dich zur Frau nehme. Welche Wahl bleibt deinem Vater? Welch anderer Mann zeigte sich schon so großzügig gegenüber einem gefallenen Weib? [...] Mit deinem Liebhaber ist es natürlich aus und vorbei [...] (Seite 151) Aber die Dorfbewohner halten zusammen. Gopinath Razdan wird verjagt, und die beiden betroffenen Familien bereiten die Hochzeit von Shalimar und Boonyi vor. Dass es sich um eine Mischehe zwischen einem Moslem und einer Hindufrau handelt, hält niemand in Pachigam für ein Hindernis. [...] in ebenjenem Moment, in dem das Dorf beschlossen hatte, sie [Boonyi] und Shalimar den Narren zu schützen und zu ihnen zu halten, indem es sie zur Heirat zwang und somit zu lebenslanger Haft verurteilte, wurde Boonyi von Klaustrophobie überwältigt und sah deutlich vor sich, was sie zuvor, da sie vermutlich zu sehr in Shalimar verliebt gewesen war, einfach nicht begriffen hatte: dass nämlich dieses Leben, das Eheleben, das Dorfleben, das Leben mit ihrem am Muskadoon schwatzenden Vater und ihren gopi-Tänze tanzenden Freundinnen, das Leben mit all den Menschen, unter denen sie bisher jeden einzelnen Tag verbracht hatte, bei weitem nicht genug für sie war, dass es nicht mal ansatzweise ihren Hunger befriedigen konnte, ihr gieriges Verlangen nach etwas, das sie noch nicht zu benennen vermochte, das aber, je älter sie wurde, durch die Unzulänglichkeiten ihres Lebens nur noch härter und schmerzlicher zu ertragen sein würde. (Seite 160)
Einige Jahre später taucht im muslimischen Nachbardorf Shirmal ein hagerer Prediger auf, der behauptet, eine Reinkarnation des Heiligen Bulbul Shah aus dem 14. Jahrhundert zu sein.
Sie dienten dem Fortschritt auf wertvolle, praktische Weise. Bis zur Gaskammer schafften sie es nie. Die Wissenschaft brachte sie schon vorher um. (Seite 217)
Max gelang es, den Deutschen zu entkommen, und zwar durch einen abenteuerlichen Nachtflug nach Clermont-Ferrand in einem von Ettore Bugatti und Louis D. de Monge konstruierten und bei Kriegsbeginn in Molsheim versteckten Prototyp. Als Boonyi zum ersten Mal in Maximilian Ophuls' Augen blickte, verbeugte sie sich, während er ihr frenetisch Beifall spendete und sie dabei so durchdringend ansah, als wollte er ihr direkt ins Herz schauen. In diesem Moment wusste sie, dass sie gefunden hatte, wonach sie suchte. "Ich habe mir geschworen, dass ich die Gelegenheit beim Schopfe packe, sobald sie sich bietet", sagte sie sich, "und jetzt ist sie da, starrt mir ins Gesicht und klatscht wie verrückt." (Seite 185) Edgar Wood, ein Mitarbeiter des Botschafters, zu dessen Aufgaben es gehört, die zahlreichen Liebesaffären seines Chefs zu arrangieren, sorgt dafür, dass Boonyi zusammen mit ein paar anderen Künstlerinnen und Künstlern aus Pachigam nach Neu-Delhi eingeladen wird und dort in der US-Botschaft auftritt. In der Nacht schließen Max und Boonyi eine Art Vertrag: Der einflussreiche Diplomat ermöglicht Boonyi, aus ihrem Dorf in die Welt zu springen und erwartet dafür ihre absolute Willfährigkeit und unbegrenzte Verfügbarkeit. Ein Apartment für die Mätresse des Botschafters hat Edgar Wood bereits gemietet. Bei der Abmachung übersieht Max allerdings, dass ihm Boonyis Herz nie gehören wird, denn um ihren Ehemann verlassen zu können, hat sie es sich selbst herausgerissen. Doch vorläufig wurde der Meisterfälscher noch von der Fälschung getäuscht, die er erstanden hatte, getäuscht und befriedigt, und er war glücklich wie ein Kunstsammler, der verborgen in einem Haufen Gerümpel ein Meisterwerk entdeckt, zufrieden wie ein Sammler, der dem Kauf nicht widerstehen kann, obwohl er weiß, dass die Ware gestohlen wurde und er sie vor den Blicken anderer verbergen muss. (Seite 267) Im Lauf der Zeit lässt Max sich von Boonyis Klagen über die indischen Unterdrücker in Kaschmir beeinflussen. Während er sich zu Beginn seiner Amtszeit für einen Ausgleich zwischen Indien und Pakistan einsetzte, beginnt er Partei gegen Indira Gandhi zu ergreifen. Als der Botschafter deshalb in Leitartikeln kritisiert wird, hält Edgar Wood es für erforderlich, dass Boonyi aus dem Leben seines Chefs verschwindet. [...] und er rief die Picadores, vielmehr die Picadoras. Die Schönen, mit denen er auf Max abzielte, waren sorgsam aus den oberen Gesellschaftsschichten von Delhi und Bombay ausgewählt, damit Boonyi unvorteilhaft dagegen abstach. Es waren reiche, kultivierte, gebildete, außergewöhnliche Frauen, die ihn von ferne umkreisten. Dann kamen sie näher. Immer und immer wieder trafen ihn die Lanzen ihrer koketten Bewunderung, ihrer anmutigen Bewegungen, ihrer Berührungen. (Seite 276)
Während Max sich durch die schönen Frauen ablenken lässt, tröstet Boonyi sich mit Kautabak, Opium und viel Essen über ihre Einsamkeit hinweg. Ihre Schönheit geht verloren. Nach einigen Monaten klärt sie Edgar Wood darüber auf, dass sie schwanger ist. Wegen ihrer enormen Gewichtszunahme fiel es nicht auf, und nun ist es für eine Abtreibung bereits zu spät: Sie hat die Männer ausgetrickst. Die Hölle schien verlockender als jene Oberwelt lügender Mütter und abwesender Väter, in der sie sich gefangen sah, weshalb sie ihr im Laufe einer verstörten Jugend auf allen nur erdenklichen selbstzerstörerischen Wegen zu entkommen suchte [...] Mit fünfzehn war sie eine Schulschwänzerin, eine Lügnerin, eine Betrügerin, eine Aussteigerin, eine Diebin, ein entlaufener Teenager, ein Junkie und kurzzeitig sogar eine Nutte [...] (Seite 472)
Nachdem Peggy als Adoptivmutter versagt hat, holt Max seine Tochter aus der Gosse. Er tötete. Er schlug die Zeit tot. Er tötete jeden, den er töten konnte, um die Zeit zu ertragen, die vergehen musste, bis er sie töten durfte. (Seite 404)
Im Sommer 1987 tauchen auch in Shirmal und Pachigam Plakate von muslimischen Fanatikern auf, die verlangen, dass Frauen sich verschleiern und weder Männer und Frauen noch Moslems und Hindu gemeinsam fernsehen. Es kommt zu ethnischen Säuberungen. Obwohl 600 000 indische Soldaten in Kaschmir stehen, verhindern sie die Pogrome nicht und sehen zu, wie 350 000 Hindu fliehen. Sie gab sich diszipliniert, gepflegt, nuanciert, vergeistigt, ungläubig, verhalten und gelassen. Sie sprach mit englischem Akzent, tat nicht heißblütig, sondern kühl. Das war der Charakter, den sie wollte, den sie mit großer Entschlossenheit für sich geschaffen hatte. (Seite 14)
Drei Tage nach ihrer Rückkehr wird Noman Sher Noman alias Shalimar der Narr verhaftet. Kaschmira versteht sich als seine Nemesis und schickt ihm während der eineinhalb Jahre bis zum Beginn des Gerichtsverfahrens fünfhundert Briefe. Nachts erwacht Shalimar oft schreiend und glaubt, Kaschmira habe ihn verhext. William T. Tillerman baut darauf seine Verteidigung auf und versucht, Mitleid für den Angeklagten zu erwecken: Dessen Heimatdorf sei von der indischen Armee zerstört worden, führt er aus, und dabei habe man nicht nur Noman Sher Nomans Eltern und einen seiner Brüder, sondern auch seine geliebte Ehefrau Boonyi ermordet. Wen könne es da wundern, dass der leidgeprüfte Mann irre geworden sei und sich verhext fühle. Kaschmira, die von den Anklagevertretern Janet Mientkiewicz und Larry Tanizaki als Zeugin aufgerufen wird, sagt aus, dass Boonyi nicht von der indischen Armee, sondern von ihrem Ehemann der Kopf abgeschnitten wurde. Aufgrund dieser Aussage wird Shalimar zum Tod verurteilt und in eine der Todeszellen in San Quentin gebracht. |
Buchbesprechung:Der grandiose Roman "Shalimar der Narr" handelt von persönlichen Tragödien vor dem Hintergrund des Kaschmir- und des Ost-West-Konflikts. Das Paradies ist zerstört; die Welt ist aus den Fugen geratenen. Es geht um Liebe und Verrat, Chauvinismus, Rache, Hass, Fanatismus und Terrorismus. Salman Rushdie beginnt mit der Ermordung eines früheren US-Botschafters in Indien, erzählt dann die rund dreißig Jahre zurückliegende Vorgeschichte und führt die Handlung am Ende einige Jahre über die Eingangsszene hinaus. Die Überschriften der Abschnitte spiegeln den Wechsel der Perspektiven: "India", "Boonyi", "Max", "Shalimar", "Kaschmira". In Allegorien und Arabesken, Schachtelsätzen und Abschweifungen entfaltet Salman Rushdie seine orientalische Fabulierkunst. "Shalimar der Narr" ist ein sarkastisches Plädoyer für mehr Respekt, Rücksicht und Toleranz im Umgang einzelner Menschen und in der Politik. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2006
Salman Rushdie (Kurzbiografie) |