Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe. Bildungsroman |
Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe |
Inhaltsangabe:Inge Lohmark ist Mitte 50. Am Charles-Darwin-Gymnasium in einer ostdeutschen Kleinstadt erteilt sie Biologie- und Sportunterricht. In diesem Jahr ist sie die Klassenlehrerin einer 9. Klasse, in der nur noch fünf Jungen und sieben Mädchen sitzen. Es gibt weder eine Parallelklasse noch Klassen darunter, denn die Schülerzahlen sind so zurückgegangen, dass das Gymnasium in vier Jahren geschlossen wird. Die jetzige 9. Klasse wird hier als letzte das Abitur machen. Das Gebäude soll dann von der Heimvolkshochschule übernommen werden. Eltern, die überzeugt waren, dass ihr Kind entgegen jeder Empfehlung aufs Gymnasium gehörte, hatte es immer gegeben. Aber mittlerweile gab es in dieser Stadt nicht mal mehr genug Eltern. Wolfgang, Inge Lohmarks Ehemann, war zu DDR-Zeiten Veterinärtechniker. Zu seinen Aufgaben gehörte die künstliche Besamung von Kühen. Jetzt züchtet er Strauße. Mit neun Tieren fing er an, inzwischen sind es 32. Von Ilona, seiner ersten Frau, und den beiden Kindern aus dieser Ehe, hatte er sich wegen Inge getrennt. Dass diese einmal eine Abtreibung durchführen ließ, weil sie nach einem Seitensprung schwanger geworden war, weiß er bis heute nicht. Wolfgang hatte ja auch zwei Hennen gehabt. Doppelter Bruterfolg. Zwei Frauen, drei Kinder. Ihre gemeinsame Tochter Claudia zog vor zwölf Jahren in die USA. Sie ist jetzt 35 Jahre alt und hat kaum noch Kontakt mit ihren Eltern, die sie bei einem Besuch in Kalifornien vor zehn Jahren zum letzten Mal sahen. Von Claudias Heirat erfuhren sie durch eine E-Mail. Ihren Schwiegersohn Steven kennen sie nicht. Auch Claudia und Wolfgang haben sich nicht mehr viel zu sagen.
Es war zu spät, um sich von Wolfgang zu trennen. Über das Klimakterium steht nichts im Lehrplan, das ist im Biologieunterricht kein Thema. Die zweite Verwandlung des Körpers wurde ihnen [den Schülern] verschwiegen. Der schleichende Rückbau. Verkümmerung des Gebärtraktes. Einstellung der Periode. Trockene Scheide. Welkes Fleisch. Immer ging es nur ums Blühen. Inge Lohmark erinnert sich an ihre Anfänge als Referendarin. Die Tür war zu. Fünfundvierzig Minuten konnten sehr lang sein. Das musste man erst mal überstehen. Die Aufmerksamkeit. Unentwegt lagen sie auf der Lauer, waren nur darauf aus, einen scheitern zu sehen. Wer einen Fehler machte, war für immer verloren. Was das anging, hatten sie ein Elefantengedächtnis. Die Meute war gut vernetzt. Der Ruf, der einem vorauseilte. Nur keinen Fehler machen. Den Spieß umdrehen. Das Allerwichtigste war, gleich zu Beginn streng zu sein. Nachlassen konnte man immer noch. Zumindest theoretisch. Hart sein. Konsequent sein. Keine Ausnahmen. Keine Lieblinge. Unberechenbar bleiben. Schüler waren natürliche Feinde. Seither haben sich ihre Ansichten nur noch erhärtet.
Die Kollegen kapierten einfach nicht, dass sie nur ihrer eigenen Gesundheit schadeten, wenn sie auf die Schüler eingingen. Dabei waren das nichts als Blutsauger, die einem jede Lebensenergie raubten. Sich vom Lehrkörper ernährten, von seiner Zuständigkeit und der Angst, die Aufsichtspflicht zu verletzen. Unentwegt fielen sie über einen her. Mit unsinnigen Fragen, dürftigen Eingebungen und unappetitlichen Vertraulichkeiten. Reinster Vampirismus. Inge Lohmark hält am Frontalunterricht fest. Sie lehnt es ab, die Sitzordnung aufzulockern, und es würde ihr nie in den Sinn kommen, sich von Schülern duzen zu lassen, wie es ihre Kollegin Karola Schwanneke tut. Für die Schüler war es ohnehin das Beste, sie in jedem Moment spüren zu lassen, dass sie ihr ausgeliefert waren. Einmal beobachtet Inge Lohmark, wie ihre Schülerin Ellen an der Bushaltestelle von anderen aus der Klasse schikaniert wird. Aber sie unternimmt nichts dagegen, denn außerhalb des Unterrichts spricht sie mit Schülern grundsätzlich nicht. Außerdem denkt sie: Einen traf es immer. Gruppendynamik. Als ein Schüler im Biologieunterricht fragt, warum man von Tochter-, nicht aber von Sohnesgenerationen spricht, antwortet sie: "Der Beitrag der Männer zur Fortpflanzung ist letzendlich gering." Für sich denkt sie: Was war schon der hastig ausgeführte Geschlechtsakt auf einem Hochstand gegen neuneinhalb Monate Tragezeit? Laut weist sie darauf hin, dass die Embryogenese stets weiblich beginnt. Das Ypsilon ist nur dafür da, dass die Entwicklung zum Weiblichen unterdrückt wird. Männer sind Nicht-Frauen.
Eines Morgens sieht Inge Lohmark während der Autofahrt zur Schule, dass der Schulbus liegen geblieben ist. An der nächsten Haltestelle warten ein paar Schüler. Sie fährt vorbei. Aber als sie Erika stehen sieht, hält sie an, informiert sie darüber, dass der Schulbus eine Panne habe und nimmt sie mit. Das widerspricht ihren Grundsätzen, und es irritiert sie. Gibt es weibliche Pädophilie, überlegt sie. Das Mädchen ist ihr ausgeliefert, sie könnte es einsperren oder aussetzen. Verunsichert fährt sie auf den Schulparkplatz. "… wie aber die Giraffe zu diesem langen Hals kam, wurde ganz unterschiedlich …"
Da steht Kattner, der die Schule seit 15 Jahren leitet, in der Tür und fordert Inge Lohmark auf, mit in sein Büro zu kommen. Dort sitzt Ellen und schluchzt. Kattner,
Wer den längeren Hals hat, lebt auch länger. Und je länger man überlebt, desto größer ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass man es schafft, sich fortzupflanzen. Inge Lohmark erinnert sich, wie ihre Tochter Claudia bei ihr in der Klasse war. Einmal kam sie verspätet zum Unterricht. Sie sah mitgenommen aus; es musste etwas vorgefallen sein. Vermutlich war sie gemobbt worden. Aber das war jetzt nicht das Thema. Während Inge Lohmark etwas an die Tafel schrieb, rief ihre Tochter "Mama" und rannte zu ihr nach vorne, aber sie stieß das Kind zurück. Es fiel hin und blieb schluchzend liegen. Claudia schrie nach ihr. Vor der ganzen Klasse. Natürlich war sie ihre Mutter. Aber zuallererst ihre Lehrerin. [...] Sie waren in der Schule. Es war Unterricht. Sie war Frau Lohmark. |
Buchbesprechung:
In ihrem "Bildungsroman" (so der Untertitel) "Der Hals der Giraffe" porträtiert Judith Schalansky eine verknöcherte, in der DDR sozialisierte Biologielehrerin, die das darwinistische Weltbild verinnerlicht hat und nicht wahrhaben will, dass sie vor dem Scheitern steht. "Der Hals der Giraffe" ist aber mehr als das Psychogramm einer aus der Zeit gefallenen Frau Mitte 50. Dass die Protagonistin den Sozialdarwinismus vertritt, reizt in Fragen des Zusammenlebens von Menschen zum Widerspruch. Nebenbei werden auch Themen wie Evolution, Klimawandel und die Landflucht in Ostdeutschland berührt. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2013 |