Helmut Schmidt, Peer Steinbrück: Zug um Zug (Gesprächsprotokoll) |
Helmut Schmidt, Peer Steinbrück: Zug um Zug |
Inhaltsangabe und Buchbesprechung:Im Sommer 2011 moderierte Matthias Naß in Helmut Schmidts Wohnhaus in Hamburg-Langenhorn ein Gespräch des Bundeskanzlers a. D. mit dem ehemaligen Bundesfinanzminister Peer Steinbrück. Thomas Karlauf redigierte den Text für die Buchausgabe "Zug um Zug" und gliederte ihn in sechs Kapitel:
Helmut Schmidt und Peer Steinbrück beginnen mit der Weltpolitik und diskutieren zunächst über die Situation der USA. Steinbrück beklagt den Rückfall auf den "Stand fundamentaler parteipolitischer Auseinandersetzungen" zwischen Demokraten und Republikanern, der das politische System zunehmend paralysiere. Aber da entgegnet Schmidt: "Peer, dass es paralysiert ist, scheint mir übertrieben." Im Anschluss daran sprechen die beiden Sozialdemokraten über die amerikanische Außenpolitik, das Verhältnis zwischen den USA und China, die Entwicklung Chinas und Russlands Rolle in der multipolaren Welt. [Steinbrück befürchtet, dass] das europäisch-atlantische Muster abgelöst wird durch ein asiatisch-pazifisches, Europa in eine Position zunehmender Schwäche gerät und der Verlust der Vorrangstellung der USA ein Vakuum entstehen lassen könnte. Beide Politiker bedauern es, dass die israelische Regierung den arabischen Frühling nicht als Chance begreift. [Steinbrück:] Der Nahe Osten ist ein einziges Pulverfass, und wenn es nicht zu einer größeren Offenheit der israelischen Politik gegenüber diesen Veränderungen in der arabischen Welt kommt, wird die Gefahr, dass es explodiert, immer größer werden.
Im zweiten Teil des Gesprächs erinnert Peer Steinbrück sich daran, wie der damalige Regierungschef Helmut Schmidt im September 1979 zum ersten Mal mit ihm sprach. Er war damals als 32-jähriger Hilfsreferent im Kanzleramt tätig. Steinbrück erzählt, wie er 1976 aufgrund des Radikalenerlasses vier Monate lang arbeitslos war, weil er 1972 als Student in einer WG in Kiel gewohnt hatte, die dem schleswig-holsteinischen Verfassungsschutz als verdächtig gemeldet und deshalb im Mai 1972 von 15 Polizisten gestürmt worden war. Dem Joschka Fischer würde ich heute staatsmännische Urteilskraft attestieren. Auch auf Franz Josef Strauß kommt Schmidt zu sprechen: Strauß habe ich in höherem Maße respektiert als Kohl, das muss ich bekennen. Ihn habe ich auch intensiver bekämpft, aber das war notwendig. Was das Publikum gar nicht gemerkt hat, war, dass Strauß und Schmidt sich wohl dreimal privat getroffen haben. [...] Er war ein ernstzunehmender Gegner, eine wirkliche politische Potenz, außerdem eine rhetorische Begabung sondergleichen, leider aber ohne ausreichende Selbstkontrolle. Das war seine entscheidende Schwäche. Die Gesprächspartner überlegen, wie Wählerinnen und Wähler politische Inhalte vermittelt werden können und kommen dabei auch auf die Rolle der Medien zu sprechen, die nach ihrer Meinung zunehmend personenfixiert sind. Das habe sich Karl Theodor Freiherr von und zu Guttenberg zunutze gemacht, sagt Steinbrück. Schmidt entgegnet: Das seriöse Publikum hat genug von der ewig sich wiederholenden Politikshow. Die fing übrigens nicht mit Guttenberg an, sondern mit den beiden FDP-Häuptlingen Möllemann und Westerwelle. Alle drei: hohe Intelligenz, hohes Geltungsbedürfnis – Substanz zweifelhaft. Ein Abschnitt des Gesprächs dreht sich um die Sozialpolitik und den Sozialstaat, erforderliche Reformen und die Aufgabe der Sozialdemokratie. [Steinbrück:] Die SPD neigt heute leider immer noch zu Nachhutgefechten. Statt stolz zu sein auf das, was gelungen ist, werden Debatten darüber geführt, was während der Regierungszeit 1998 bis 2005 eventuell richtig und was ganz sicher falsch gewesen ist. Ich vermisse eine nach vorn gerichtete Debatte, die die zentralen Themen des zweiten Jahrzehnts aufgreift.
Eine ganze Weile unterhalten sich Helmut Schmidt und Peer Steinbrück über Fußball, Kunst und Literatur, Martin Heidegger, Jürgen Habermas und Karl Popper.
Was mich gereizt hat, war die Verantwortung für das öffentliche Wohl, für die Salus publica – das war unausgesprochen und ausgesprochen für mich immer die oberste Regel. Karriere hat mich nicht sonderlich interessiert, muss ich wirklich sagen. Steinbrück greift den Gedanken auf: Ich finde das Bild vom Reinrutschen gar nicht so verkehrt. Ich benütze das Bild vom Trichter. In diesem Trichter rutscht man immer weiter, bis man dann eines Tages an einer Position ist, wo man sich entscheiden muss. Im vorletzten Gesprächsabschnitt befassen sich Helmut Schmidt und Peer Steinbrück mit der internationalen Finanzkrise. Steinbrück hält es bedenklich, dass die Europäische Zentralbank seit Mai 2010 "wegen des politischen Versagens zu einem Ersatzakteur gemacht" wurde und neben der genuinen geldpolitischen auch eine fiskalpolitische Funktion übernommen habe. Außerdem kritisiert er, dass Angela Merkel und Nicolas Sarkozy 2009 statt Jean-Claude Juncker den weniger qualifizierten Herman Van Rompuy zum ersten ständigen Präsidenten des Europäischen Rates machten. Und es ist jemand zur Hohen Beauftragten für Außen- und Sicherheitspolitik gemacht worden, über die man heute Mühe hat, die Höflichkeit zu wahren, Mrs Ashton. Schmidt und Steinbrück nehmen an, dass Angela Merkel die Leidenschaft für die europäische Einigung fehle, weil sie in der DDR sozialisiert wurde. Steinbrück wirft ihr vor, die Auswirkungen der Eurokrise durch ihr "wankelmütiges Vorgehen" verteuert und verschlimmert zu haben. Er erinnert an die Patronatserklärung, die er am 5. Oktober 2008 als Finanzminister mit ihr zusammen für die deutschen Spareinlagen abgab: Hätte man frühzeitig eine Patronatserklärung für die Refinanzierung schwächerer Länder unter strikten Auflagen, sich zu reformieren und zu restrukturieren, abgegeben, dann wäre uns vieles erspart geblieben.
Die beiden Sozialdemokraten halten eine Art europäischen Marshallplan für erforderlich, um angeschlagene Staaten wie Griechenland bei der Ankurbelung ihrer Wirtschaft zu unterstützen. Und sie mahnen Deutschland, den Außenhandelsbilanzüberschuss abzubauen. Es muss ins Bewusstsein der Deutschen gebracht werden, dass es ihnen so gut geht wie niemals vorher in der Geschichte – ganz abgesehen von der Tatsache, dass sie noch niemals sechzig Jahre ohne Krieg erlebt haben. Helmut Schmidt und Peer Steinbrück führen keine kontroverse Diskussion. Nur selten äußert Schmidt einen Einwand, meistens greift auch er Gedanken und Meinungen seines Gesprächspartners auf und führt sie fort. Angesichts der Tatsache, dass Peer Steinbrück neben Sigmar Gabriel und Frank-Walter Steinmeier als einer der drei möglichen Kanzlerkandidaten für 2013 gilt, drängt sich die Vermutung auf, dass es der Zweck des Buches "Zug um Zug" sein könnte, Steinbrück zu positionieren. Schmidt spricht denn auch die Kandidatenfrage an:
Und ob Ihnen das nun sonderlich in den Kram passt oder nicht, Peer, ich bin aus zwei Gründen der Auffassung, dass die SPD gut beraten wäre, Sie als den Kandidaten für das Amt des Bundeskanzlers zu nominieren. Peinlich ist es, wie Helmut Schmidt sich damit brüstet, dass er das Rauchverbot ignoriert und beispielsweise während einer Bahnfahrt rauchte. Der Schaffner ist gekommen, wollte mir das Rauchen verbieten und hat mir ein Strafmandat ausgestellt. Ich habe das Strafmandat bezahlt, und danach habe ich Herrn Mehdorn [von 1999 bis 2009 Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bahn AG] einen Brief geschrieben und ihn gebeten, durch seine Rechtsabteilung doch einmal prüfen zu lassen, ob die Deutsche Bahn berechtigt ist, wie ein Gericht Strafen zu verhängen. Er hat meiner Frau einen Blumenstrauß geschickt, aber die Antwort ist er mir schuldig geblieben. Um im Nichtraucherzimmer eines Hotels in Kanada rauchen zu dürfen, bezahlte Schmidt im Voraus 150 Dollar für die erforderliche Grundreinigung nach seinem Aufenthalt.
Nein, im Ernst, das ist eine Hysterie, die sich von Amerika aus über die halbe Welt verbreitet hat. Das wird aber genauso zu Ende gehen wie die Prohibition.
Peinlich ist auch das Bild auf dem Cover des Buches "Zug um Zug". Helmut Schmidt und Peer Steinbrück tun so, als spielten sie Schach, aber die Figuren stehen auf einem verdrehten Brett. (Bei Weiß ist das Feld ganz rechts in der ersten Reihe schwarz statt weiß.) Ungewohnt ist auch, dass beide Spieler gleichzeitig ziehen. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2012 |