Peter Stamm: An einem Tag wie diesem (Roman) |
Peter Stamm: An einem Tag wie diesem |
Inhaltsangabe:Sein Leben war eine endlose Abfolge von Schulstunden, von Zigaretten und Mahlzeiten, Kinobesuchen, Treffen mit Geliebten und Freunden, die ihm im Grunde nichts bedeuteten, unzusammenhängende Listen kleiner Ereignisse. Irgendwann hatte er es aufgegeben, dem Ganzen eine Form geben zu wollen, eine Form darin zu suchen. Je weniger die Ereignisse seines Lebens miteinander zu tun hatten, desto austauschbarer waren sie geworden. Er war sich manchmal vorgekommen wie ein Tourist, der von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten hetzt in einer Stadt, von der er noch nicht einmal den Namen kennt. Lauter Anfänge, die nichts mit dem Ende zu tun hatten, mit seinem Tod, der nichts anderes bedeuten würde, als dass seine Zeit abgelaufen war. (Seite 111)
Diese Beschreibung bezieht sich auf Andreas, einen vierzigjährigen Lehrer, der aus einem kleinen Dorf in der Schweiz stammt, aber seit achtzehn Jahren in Paris lebt. Die Eintönigkeit seines Alltags ist ihm bewusst. Diese Monotonie wird lediglich unterbrochen durch Liebesbeziehungen zu drei Frauen, die er abwechselnd trifft: Nadja ist geschieden, hat aber immer noch ein lockeres Verhältnis zu ihrem Ex-Mann. Mit Sylvie, die verheiratet ist und drei Kinder hat, trifft er sich am schulfreien Mittwochnachmittag. Delphine ist eine Praktikantin an seiner Schule; mit der Vierundzwanzigjährigen schläft er ebenfalls. Jene große Liebe, für die sie in seinem Leben stand, würde bestimmt nicht mehr daraus werden. Vermutlich war es gar nicht Fabienne, nach der er sich sehnte, sondern nach der Liebe von damals, nach der Bedingungslosigkeit jenes Gefühls, das ihn noch zwanzig Jahre später ratlos machte. (Seite 35)
Fabienne ist seit zwanzig Jahren mit Manuel verheiratet, einem früheren Freund von Andreas, und hat einen Sohn. Er lief vor der Krankheit davon, die sein Leben war, seine Arbeit, seine Wohnung, die Menschen, die er seine Freunde nannte oder seine Geliebten. Hier auf der Straße kannte ihn niemand [...] Hier hatte er keine Vergangenheit und keine Zukunft, nur eine flüchtige Gegenwart. Er musste immer weitergehen, er durfte nicht anhalten, nicht stillstehen, dann konnte ihm nichts geschehen. (Seite 74 f) Er malt sich aus, dass man ihn operiert und dass eine Chemotherapie erforderlich ist. Aber vielleicht handelte es sich ja nur um Narben einer überstandenen Tuberkulose oder einen gutartigen Tumor. Das Labor konnte sich getäuscht haben, oder die Gewebeproben wurden verwechselt. Andreas will es nicht wissen.
Sie konnten ihn nicht zwingen, es zu wissen. Solange er es nicht wusste, konnte ihm nichts geschehen. Er musste weg von hier. Er musste ein neues Leben beginnen. Das, dachte er, ist meine einzige Chance. Sogleich ruft er Nadja an, die aber nicht zu Hause ist. Sylvie sagt ihm am Telefon, dass sie keine Zeit habe. In der Wohnung wartet Delphine, die er mit der lapidaren Bemerkung abfertigt, es sei alles in Ordnung. Andreas lädt seine Freundin in ein teures Restaurant ein und bestellt sogar ein Fleischgericht, obwohl er meistens vegetarisch isst. Von jetzt an mache er eben alles anders, er sei wie neugeboren, versichert er der erstaunten Delphine, die ihn noch zu einem Diskobesuch überreden kann. Zurück in der Wohnung lieben sie sich, und während sie ihn noch streichelt, sagt er ihr, dass sie nach Hause gehen soll.
"Kannst du verstehen, dass ich mir ausgenutzt vorkomme?", fragte sie.
Mitten in der Nacht klingelt Andreas an Nadjas Wohnungstür, um sich von ihr zu verabschieden. Ihr Ex-Mann war bis vor kurzem bei ihr, was Andreas zu einer beleidigenden Bemerkung veranlasst. Er fügt noch an, er werde sie vermissen: "Man kann so schön allein sein mit dir." – "Du bist allein, egal, mit wem du zusammen bist", erwidert Nadja. (Seite 84)
"Unsinn", sagte er. "Sie ist glücklich verheiratet." Am nächsten Morgen ruft er Fabienne an. Er erkundigt sich, ob sie ihrem Mann erzählte, dass er bei ihr war. Das tat sie nicht, weil sie nicht wusste, wie Manuel reagieren würde. Sie verabreden sich am See bei einem Wohnwagen, den Andreas von früher noch kennt. Nachdem sie geschwommen sind, fragt Andreas Fabienne, ob sie sich erinnere, wie er sie vor zwanzig Jahren küsste und ob sie wisse, dass er sie damals sehr liebte. Davon habe sie nichts bemerkt, sagt sie. Im Wohnwagen ziehen sie sich um, und einen Moment lang steht sie nackt vor ihm. Sie spazieren noch zu einer Aussichtsplattform. Er fasst sie um die Hüften und berührt ihre Brüste. Als er sie auf den Mund küssen will, wendet sie ihr Gesicht ab. Als er versucht, seine Hand in ihre Jeans zu schieben, öffnet sie den Knopf ihrer Hose. Der Geschlechtsverkehr erweist sich als unbequem, erfolgt wenig leidenschaftlich und dauert nicht länger als eine Viertelstunde. Sie wirkte sehr nackt und verletztlich. Andreas musste an Polizeifotos denken, von Tatorten, bleiche, leblose Körper an Straßenböschungen, in Wäldern oder im Schilf. (Seite 174) Nachdem sie sich am Parkplatz verabschiedeten, wundert er sich über ihre Zielstrebigkeit, "von der Sachlichkeit ihrer Hingabe und dann von der plötzlichen, schnellen Lust". Sie kam Andreas sehr fremd vor. Es war ihm, als habe sich durch die Nacktheit auch ihr Gesicht verändert. Er erkannte sie erst wieder, als sie sich angezogen hatte. (Seite 175) Andreas und Fabienne treffen sich am nächsten Vormittag bei der Hütte, bei der sie sich damals kennen gelernt hatten. Andreas war seinerzeit auch der Freund von Manuel, und er wundert sich jetzt, dass er keinen Groll auf seinen "Rivalen" hatte und noch nicht einmal eifersüchtig war, als er erfuhr, dass Fabienne dann ein festes Verhältnis mit ihm hatte. Er küsst sie jetzt auf den Mund, aber sie erwidert den Kuss nicht, umarmt ihn lediglich wie einen guten Freund. "Es hat keinen Sinn", sagt sie. Und als er vorschlägt, sie sollten eine Nacht zusammen verbringen, "damit sie etwas haben, woran sie sich erinnern können", lehnt sie ab. Sie fragt ihn, was seine Freundin dazu sage, dass er sich dauernd mit ihr trifft. Andreas winkt ab: Delphine sei zurückgefahren; es sei nichts Ernsthaftes gewesen. Fabienne küsst Andreas zum Abschied, diesmal lange und intensiv.
Er fühlte sich schwach, aber seine Gedanken waren klar wie seit Monaten nicht mehr. Er empfand nichts als eine Art heiterer Gleichgültigkeit. Es war ihm, als sei er ein Gewicht losgeworden, das achtzehn Jahre lang auf ihm gelastet hatte. (Seite 183)
Andreas sieht sich im Ort ein wenig um. Als er seinen Bruder Walter, seine Schwägerin und deren Kinder besucht, ist er überrascht, wie freundlich er aufgenommen wird. Sie laden ihn sogar ein, bei ihnen zu übernachten. Seit Andreas bei der Beerdigung seines und Walters Vater wenig Anteilnahme gezeigt hatte, herrschte eine Missstimmung zwischen den Brüdern. Als sie sich verabschieden, kann Andreas sich vorstellen, noch einmal wiederzukommen. Er musste Delphine finden und mit ihr sprechen. Er musste den Arzt anrufen, die Befunde abholen, auch wenn sie letztlich nicht von Bedeutung waren. (Seite 205) Da sieht er Delphine im Wasser stehen, mit dem Rücken zu ihm. Sein Rufen geht im Lärm der Brandung unter. Dann dreht sie sich um. Als sie Andreas erkennt, geht sie auf ihn zu, lacht und küsst ihn auf den Mund. |
Buchbesprechung:
Andreas verließ als junger Mann seinen kleinen Heimatort in der Schweiz. Der nun Vierzigjährige ist als Lehrer an einem Gymnasium in Paris angestellt. Zu seinen früheren Freunden hat er kaum mehr Kontakt, auch nicht mit seinem Bruder, den er seit der Beerdigung des Vaters nicht mehr sah. Die einzige Unterbrechung der Monotonie seines Alltags sind drei Geliebte, mit denen er sich abwechselnd trifft. Seine Unfähigkeit auf andere Menschen einzugehen, seine "gleichgültige Freundlichkeit" (Seite 67), erlauben es nicht, ein engeres persönliches Verhältnis entstehen zu lassen. Er hat sich mit der Einsamkeit und Leere abgefunden. "Die Gleichheit seiner Tage war sein einziger Halt gewesen." (Seite 197) Als einzige emotionale Ausschweifung lässt er seine Schwärmerei für Fabienne zu. Das Mädchen, das er vor zwanzig Jahren einmal küsste, dann nur noch zweimal sah, verklärt er zu seiner Jugendliebe. Sie ist mit Manuel verheiratet, der damals auch mit Andreas befreundet war. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Irene Wunderlich 2008
Peter Stamm: Agnes |