Wolf Wondratschek: Mozarts Friseur (Erzählung) |
Wolf Wondratschek: Mozarts Friseur |
Inhaltsangabe:Matrosen amüsieren sich über das Geplapper eines von Kamelen gesäugten und von Nomaden aufgezogenen Findelkindes und nehmen es in Port Said mit an Bord ihres Frachters, der nach São Paulo ausläuft. Bei einem Zwischenaufenthalt in Triest geht der Junge an Land und wird von Signor Gabriele Scardanelli in dessen Friseursalon als Gehilfe eingestellt. Der begreift rasch, "dass ein Friseur nur im Nebenberuf einer ist, der Haare schneidet" (Seite 17). So ein Salon ist ein kleiner Kosmos, in dem es viele schrullige Kunden zu beobachten gibt. Tatsächlich war er hellwach. Er prägte sich, was er sah und hörte, ein. Er war neugierig. Welche Vielfalt an Manieren, Allüren und Ticks! Wie unterschiedlich die Temperamente, die Tonlagen der Stimmen, die Streitlust! Welche Fähigkeiten der Verstellung! Wie reichhaltig das Angebot der vielen kleinen Unarten. (Seite 15) Da gab es beispielsweise einen langjährigen Kunden, der jedes Mal nach dem Eintreten um ein Glas Wasser bittet, sich bedankt, daran nippt und einnickt. Dann können Gabriele Scardanelli und seine Mitarbeiter nur noch darauf warten, bis ihm das Glas aus der Hand rutscht und auf dem Steinboden zerspringt. Was sollen sie anderes tun? Sie haben schon versucht, dem Schlafenden das Glas aus der Hand zu nehmen, aber da schlug er die Augen auf und beschwerte sich. Die Welt der Via Carducci! Sie war nicht spektakulär, aber unter ging sie auch nicht, nicht solange der Scherenschleifer einen nicht im Stich ließ. Natürlich, mit jedem, der starb, landete ein Bruchteil dieser Welt auf dem Friedhof, was aber nicht hieß, dass er als Gesprächsthema ausgedient hatte. Obwohl als Lebender nicht mehr vor Ort, wurde der eine oder andere so richtig erst interessant nach seinem Ableben. Was gab es da nachträglich nicht alles für Überraschungen, Enthüllungen und Entdeckungen! Und wie zuverlässig sich alle Gerüchte herumsprachen! Das Staunen beim Öffnen eines Testaments. Das Auftauchen einer allen, nicht nur der eigenen Familie verheimlichten Tochter; oder umgekehrt, die Tochter (oder ein Sohn) war gar nicht das eigene Kind, sondern das Ergebnis einer Fremdzeugung, von der die Frau nie etwas gestanden hatte. Ein Briefwechsel (mit wem?), aufbewahrt unter Geschäftspapieren. Wer war die ältere Dame an seinem Grab, die auch die Verwandtschaft nicht zu kennen schien? [...] (Seite 17) Signor Lendvai erzählt bei jedem Besuch im Friseursalon, wie seine Frau, eine Pianistin, vor dreißig oder vierzig Jahren bei einer Bergwanderung abrutschte und ums Leben kam.
Er hatte sie noch lebend gefunden. Und wissen sie, Signor Gabriele, fragte er, was sie zu mir gesagt hat, bevor sie zu atmen aufhörte? Als der Gehilfe einen Kunden zu überreden versucht, sich die Haare bemalen zu lassen – nicht färben, sondern bemalen! –, wirft Gabriele Scardanelli ihn hinaus. Da sein Brotherr Künstler nicht duldete (weder als Angestellte noch als Kunden, mit der einen Ausnahme von Signor Lendvai, dem Witwer – und der, weiß Gott, reichte ihm –, und dem einen oder anderen Tenor, die aber schließlich Volkshelden waren, keine Künstler), verließ der noch immer namenlose junge Mann die Stadt und reiste weiter nach Venedig, wo er auf eine Anstellung oder Lehrstelle als Perückenmacher am Gran Teatro La Fenice, der dortigen Oper, hoffte. (Seite 25)
Weil er in Venedig nicht Fuß fassen kann, kehrt er der Lagunenstadt den Rücken. Kurz entschlossen heiratet er eine Österreicherin und eröffnet "mit dem Geld einer aufgeschobenen Hochzeitsreise als Anzahlung" (Seite 28) in der Wiener Griechengasse einen eigenen Friseursalon, der bald zum Treffpunkt von Künstlern und anderen verschrobenen Individuen wird, die sich hin und wieder auch mal nebenbei die Haare schneiden lassen: darunter das sexuell frustierte Fräulein von Lehnhart-Kilany, das davon träumt, die Kunstszene in New York aufzumischen und der "chronisch empörte Künstler" (Seite 103) Tinti Berger. Der gerät einmal in Streit mit dem Kunstfreund Dr. mont. Szabloc Pruth ("Staatlich Befugter Und Beeideter Zivilingenieur Für Erdölwesen i. R."). Wenn die Kunden ausfällig werden, schaltet Karotte, der dreiundzwanzigjährige Gehilfe des Friseurs, einen Fön auf Höchstleistung.
Karotte fotografiert [...] am liebsten alles unscharf [...] Er fotografiert, wie der Friseur findet, so falsch, wie er singt. Andererseits hat das Vorteile. Bei Nick, der in dem Salon als zweiter Friseur angestellt ist, handelt es sich um einen Experten für Schwarz. Nick, genannt Der Schatten, ein monochromes Individuum, ein baumlanger Kerl, schwarz gekleidet, schwarze Stiefel, die langen Haare schwarz, schwarzer Lidschatten. (Seite 51f) Der Friseur nimmt sich Zeit, seinen Kunden zuzuhören, auch wenn sie immer wieder die gleichen Geschichten erzählen. Er produziert in den Lücken seiner Arbeit private Zeit. Die verteilt er großzügig als Geschenk. Ihm ist der Wert seiner Gabe, ihre Kostbarkeit, natürlich unbekannt. Profiten steht er ahnungslos gegenüber. Dass er in einer Zeit, wo keiner Zeit hat, eine Rarität zum Nulltarif anbietet, müsste ihm einer erst umständlich erklären; dazu aber ist keiner bereit. Und es wäre auch nutzlos. (Seite 40f)
An einer Wand hängen drei wertlose Uhren, die der Friseur vom Flohmarkt mitgebracht hat. Eine zeigt ständig auf acht Minuten vor drei; nur der rote Sekundenzeiger zuckt fortwährend, klemmt jedoch auf der Neun. Eine der Uhren steht. Man müsste sie aufziehen, aber der Friseur besitzt keinen Schlüssel. Die dritte Uhr geht um fünfunddreißig Minuten nach. Ein Museumsdirektor möchte die "Installation" – wie er das nennt – erwerben, aber der Friseur erklärt ihm, die Uhren seien unverkäuflich. Der Museumsdirektor hält die "Installation" für einen "Dreiklang zerborstener Zeit" und ein Sinnbild über den "Verfall des Funktionierens" (Seite 61). Die Zahl Fünfunddreißig notiert er sich, denn der Künstler hat sich bestimmt etwas dabei gedacht, als er eine der Uhren so einstellte, dass sie um fünfunddreißig Minuten nachgeht. Als der Museumsdirektor sich nach dem Künstler erkundigt, erfindet der Friseur den Namen "Paalo Kalin". Ein Genie darf sich selbst zweihundert Jahre nach seinem Tod alles erlauben. (Seite 34) Während Mozart sich die Haare schneiden lässt, räsoniert er über den Klang des aus der Sahara angewehten Sandes bzw. der Luft zwischen den Sandkörnchen. Hin und wieder, wie gesagt, erscheint Mozart, übermüdet vom Nachruhm. (Seite 37)
Eigentlich kommt Mozart, um "das funerfahrene, neonhell strahlende Lehrmädchen" Anna G. zu sehen, einen Blick auf ihre Brüste zu erhaschen und einen Kaffee von ihr serviert zu bekommen. Für die Perücke, die der Friseur in einer Plastiktüte aufbewahrt, seit Mozart sie bei ihm vergessen hat, interessiert sich eine Textilrestauratorin des Herzog Anton Ulrich-Museums, die eigens aus Braunschweig anreist. Sie zweifelt jedoch an der Echtheit.
Der Fall war heikel. Ein mit dem Fall befasster Gruppeninspekteur der Kripo Wien hat sich beim Reiben von Hartkäse überanstrengt, wenigstens gab das der Sohn so zu Protokoll, und war tot umgefallen. Das Herz. (Seite 125)
Um ungestört mit dem Friseur sprechen zu können, fordert Pichler ihn auf, in seinen Rolls-Royce einzusteigen und fährt mit ihm durch Wien. Er will sich eine Perücke machen lassen. Der Friseur ist erleichtert. Er hatte Schlimmeres erwartet. Aber möglicherweise macht er sich schon durch das Mitfahren strafbar, und die Perücke könnte als Verkleidung bei einer Straftat dienen. Vorsichtshalber verrät er nach der Rückkehr in seinen Laden nichts von Pichlers Auftrag, sondern behauptet, er habe eben mal schnell Imelda Marcos die Haare auffrisiert. Die Witwe des früheren philippinischen Staatspräsidenten ist tatsächlich in der Stadt, und man traut es Joe Pichler zu, dass er den Schlüssel zu ihrem Hotelzimmer hat. |
Buchbesprechung:
In "Mozarts Friseur" schildert Wolf Wondratschek einen Friseursalon als Panoptikum, in dem er eine Reihe kurioser Figuren vorführt.
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2004
Wolfgang Amadeus Mozart (Kurzbiografie) |