Leon de Winter: Place de la Bastille (Roman) |
Leon de Winter: Place de la Bastille |
Inhaltsangabe:
Paul de Wit wurde am 17. November 1943 in Amsterdam geboren. An seine Eltern konnte er sich später nicht erinnern, denn er war als Waise bei Pflegeeltern aufgewachsen, bis diese ihn nach dem Zweiten Weltkrieg in einem Heim hatten unterbringen können. Auch die Pflegeeltern wussten nicht mehr als seinen Namen und sein Alter. Weil Paul weder Fotos noch Briefe von seinen Eltern besaß, erfand er selbst Anekdoten über sie, die er schließlich mit der Wirklichkeit verwechselte: So beschloss er einmal, die Musiker eines Orchesters nach seinem Vater zu befragen, aber dann fiel ihm ein, dass er sich nur ausgedacht hatte, sein Vater sei Geiger gewesen. Während Paul Geschichte studierte, erkundigte er sich beim Roten Kreuz und beim Reichsinstitut für Kriegsdokumentation und erfuhr, dass die Nationalsozialisten seinen damals neunundzwanzigjährigen Vater Aaron und seine sechs Jahre jüngere Mutter Elsje am 8. Februar 1944 zusammen mit 1013 anderen Juden von Westerbork nach Auschwitz deportiert hatten. Als Paul herausfand, wer die Hebamme bei seiner Geburt war, besuchte er sie. Die Neunundsiebzigjährige erinnerte sich an seine Mutter und behauptete, auch bei der Geburt seines zwei Stunden älteren Zwillingsbruders geholfen zu haben. Bis dahin hatte er von einem Bruder noch gar nichts gewusst. Es könnte jedoch auch sein, dass die Hebamme sich nach Jahrzehnten irrte und in ihrer Erinnerung etwas verwechselte. Als wir am Tisch Platz genommen hatten und ihr Vater den Wein einschenkte, erzählte sie jählings, dass ich Jude sei und wir in den vergangenen Wochen jede Nacht miteinander geschlafen hätten. Der Wein spritzte über das weiße Tischtuch und das blitzende Porzellan, ihre Mutter schrie ihren Namen, und dann ertönte die laute Stimme ihres Vaters, der uns hinauswarf. (Seite 26)
Nach dem Zerwürfnis mit ihren Eltern wechselte Mieke von Soziologie auf Französisch.
Was kümmerten mich die Gebräuche eines Nomadenvolkes, das vor Jahrtausenden in unwirtlichen Gebieten umhergezogen war [...] 1966 noch nach Hygienevorschriften von vor dreitausend Jahren zu leben war unsinnig. (Seite 17)
Eine Viertelstunde später musste Paul sich übergeben.
Die Geschichte trug keinen Sinn in sich, führte nirgendwohin, war eine amorphe Masse, in der einige trügerische kleine Fakten eine dubiose Kette aus Ursache-und-Wirkung-Verbindungen gebildet hatten, um die Arbeit von Historikern zu legitimieren und die Wahrheit von Ideologien zu belegen. (Seite 31)
1970 machte Paul sein Examen und begann, an einer Schule in Amsterdam Geschichte zu unterrichten. Er und Mieke vermählten sich. 1972 wurde ihre Tochter Hanna geboren, zwei Jahre später Mirjam. [...] dass ich hier ein Zimmer hätte, bedeute noch lange nicht, dass ich frei über das weibliche Personal verfügen könne, und im Übrigen arbeite sie hier nur zeitweilig, sie sei Studentin, und es sei ihr gleichgültig, wenn sie jetzt, weil sie mir die Meinung sage, entlassen werde, ich sei ein männlicher Chauvinist, der denke, Frauen wären zu seinem Vergnügen da [...] (Seite 63) Einige Minuten später kam sie zurück und ging mit ihm aus. Am dritten Tag schliefen sie erstmals miteinander. Sie war fünfzehn Jahre jünger als Paul und hieß Pauline Moskovitsch. Bis zu seiner Abreise eine Woche später waren Paul und Pauline jeden Tag zusammen. Als er nach Amsterdam zurückkehrte, wusste er nicht, wie es mit Pauline bzw. Mieke und seinen Töchtern weitergehen sollte. Ich kann keinen einzelnen Vorfall anführen, der das bösartige Scharnier dargestellt hätte, welches mich von Mieke abkehrte; in einem schleichenden Prozess wurde über winzige Schocks deutlich, wie verschieden die Motive waren, die uns veranlasst hatten, nebeneinander zu leben. (Seite 28f) Widerwillig nahm er seine Berufstätigkeit wieder auf. Es waren weniger die bornierten Sprüche meiner Kollegen oder das Desinteressse und die einen zur Verzweiflung treibenden Moden der Schüler als vielmehr der tägliche Umgang mit den blinden Jahreszahlenlisten und dem Geschwafel und den simplifizierenden Geschichtchen über Karl den Großen, die Erfindung der Dampfmaschine, den Wiener Kongress und von Clausewitz, die mir erneut zuwider waren. (Seite 120)
Die in Paris verknipsten Filme ließ Paul in einem Fotogeschäft entwickeln, in dem ihn niemand kannte. Auf drei der Fotos bemerkte er hinter Pauline, die auf der Place de la Bastille stand,
[...] machte mich zur Unterrichtsmaschine, die sich Stunde um Stunde automatisch von der einen in die andere Klasse begab und reibungslos die verlangten Informationen ausstieß, auch wenn es in meinen Ohren sauste und mir in dem unerträglichen Tageslicht die Augen brannten. Ich brachte mich vorsätzlich an den Rand eines physischen Zusammenbruchs [...] (Seite 8)
Mieke entging nicht, wie kaputt er war. Sie führte es darauf zurück, dass er nicht über die Ermordung seiner Eltern hinwegkam und sah auch sein Buchprojekt in diesem Zusammenhang: Paul wollte die Geschichte korrigieren. Auschwitz sollte es nicht gegeben haben. Dann hätten seine Eltern vielleicht noch gelebt. Sie schlug ihm deshalb vor, die zwei freien Wochen über Weihnachten und Neujahr in Paris zu verbringen und noch fehlende Informationen über die Flucht König Ludwigs XVI. nach Varennes zu beschaffen, während sie mit den Kindern zu ihrer Mutter nach Zeeland fahren und dort Weihnachten feiern wollte. Komischerweise begann ich selbst an die Geschichte zu glauben, dass ich des Buches wegen nach Paris fuhr. (Seite 13) Ein paar Tage vor der Abreise kam Pauline zufällig nach Amsterdam. Paul traf sich mehrmals heimlich mit ihr. Sie begleitete ihn auch im Zug nach Paris, stieg jedoch in Compiègne aus, um ihre Eltern zu besuchen.
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
Paul forschte in Paris nach Männern, die ihm ähnlich sahen. Marcel Groff und Jules Richert erfüllten zwar diese Voraussetzung, aber bei keinem der beiden konnte es sich um seinen Zwillingsbruder handeln. Eines Abends nahm er ein Taxi von Les Sables nach Jard-sur-Mer. Dort wohnte ein Ingenieur Paul Mendel, der vor sieben oder acht Monaten aus Lyon gekommen war. Der Taxifahrer kannte ihn flüchtig. Unterwegs ließ Paul ihn anhalten und drängte ihn, sich sein Gesicht genau anzusehen. Der Taxifahrer urteilte, er sehe dem Ingenieur zwar ähnlich, aber nicht wie ein Zwillingsbruder. Daraufhin bat Paul ihn, zu wenden und zurückzufahren. |
Buchbesprechung:
Paul de Wit kommt nicht darüber hinweg, dass die Nationalsozialisten seine jüdischen Eltern elf, zwölf Wochen nach seiner Geburt von Amsterdam nach Auschwitz deportierten und sie dort ermordeten. Paul mag deshalb nicht an die Zwangsläufigkeit historischer Ereignisse glauben und denkt obsessiv darüber nach, wie man die Geschichte korrigieren könnte. Was wäre beispielsweise gewesen, wenn die Flucht König Ludwigs XVI. nach Varennes nicht gescheitert wäre? Wenn es die Vernichtungslager der Nationalsozialisten nicht gegeben hätte, wären seine Eltern vielleicht noch am Leben.
Der Himmel von Hollywood - Originaltitel: The Hollywood Sign - Regie: Sönke Wortmann - Drehbuch: Leon de Winter, nach seinem Roman "Der Himmel von Hollywood" - Kamera: Wedigo von Schultzendorff - Schnitt: Edgar Burcksen - Musik: Peter Wolf - Darsteller: Tom Berenger, Jacqueline Kim, Rod Steiger, Burt Reynolds, Al Sapienza, Dominic Keating, Eric Bruskotter, David Proval, Kay E. Kuter, Raf Mauro, Kathleen Gati u.a. - 2001; 90 Minuten |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005
Leon de Winter (kurze Biografie / Bibliografie) |