Startseite > Literaturkritiken > Belletristik > Donna Leon: Lasset die Kinder zu mir kommen
Mit einem idyllischen Abend in einer fast heiligen italienischen Familie in Serenissima beginnt der neue Roman von der dort lebenden amerikanischen Schriftstellerin Donna Leon. Nichts deutet auf eine Gefahr, Vater, Mutter und Kind sind glücklich. Doch die Stille täuscht und man sollte sich da keine falschen Illusionen machen, was das Leben hinter der alten Mauern von Venedig angeht. Maskiert und bewaffnet stürmt ein fünfköpfiges Kommando die Wohnung des renommierten Kinderarztes Gustavo Pedrolli. Er wird zusammengeschlagen, seine Frau bedroht und sein Adoptivsohn Alfredo mitgenommen. Ein ungewöhnliches Vorkommnis, in Anbetracht der Tatsache, dass die venezianische Polizei keine Ahnung von diesem Vorhaben hat.
Commissario Brunetti wird gerufen, weil es ja einen Verletzten gibt und dafür ist nun er zuständig. Doch der sonst so schlaue Brunetti steht vor einem Rätsel. Warum weiß man in Venedig nichts davon? Wer hat das angeordnet? Und was steckt wirklich dahinter? Brunetti wird neugierig und recherchiert mit seinen eigenen Mitteln. Dass den Carabinieri dieser Umstand nicht passt, kümmert ihn nicht im Geringsten. Er will es einfach wissen.
Es stellt sich heraus, dass das Ganze im Zuge einer Großrazzia wegen illegalen Babyhandels landesweit geschah. Es ist wohl gang und gäbe, dass ausländische mittellose Frauen gesetzwidrig ihre neugeborenen Kinder für Geld zur Adoption frei geben. Das funktioniert durch ein gut aufgebautes Netz, in dem keine hartgesottener und kaltblütiger Verbrecher, sondern angesehene Ärzte, Mediziner und Apotheker beteiligt sind. Beamtenbestechung, Urkundenfälschung, Entführung eines Minderjährigen, illegaler Devisentransfer sind nur eine kurze Liste ihrer Verbrechen. Wenn bei Familien solche Kinder entdeckt werden, kommen sie in Kinderheime und sind doppelt bestraft.
Was für eine Gesellschaft ist das denn, wo man Kinder kaufen und verkaufen kann? Diese Frage quält Brunetti, der immer wieder die antiken Dichter und Denker liest und die scheinbare Leichtigkeit bewundert, mit der sie ihre moralischen Urteile fällen. Verbittert muss er aber feststellen, dass es keine moderne Legende ist, sondern ganz einfach die bittere und verdammt harte Realität, in der auch die antiken Denker keine Helfer sind.
Dem Leser wird auch dieses Mal der verzaubernde Charme des schönen Venedig von Donna Leon nicht entgehen. Er ist dabei, wenn Brunettis Frau Paola, „Die Leuchte seines Lebens“ in einer Pasticceria einen himmlischen Cappuccino mit luftig-leichten Brioche genießt, oder wenn sich der Commissario in kleinen und gemütlichen Trattorias eine Orata mit Zitrone, einen Teller Cichetti oder die Fondi di Carciofi mit einem Glas Vino Novello schmecken lässt.
Donna Leons Blick auf das venezianische Leben bleibt scharf. Ihr gelingt es besonders gut, diese unverwechselbare Atmosphäre der Stadt zu schaffen und die Lust auf Venedig zu wecken. Auch die sympathische Figur des Commissario lässt den Leser nicht gleichgültig, wenn er immer wieder die ganze Welt nach seinen Erfahrungen beurteilt, als ob es keine anderen Maßstäbe zur Bewertung menschlichen Verhaltens gäbe. Gut so für ihn und für den Leser.
Nachdem man sich reingelesen hat, wird das Buch unterhaltsam und interessant, das Thema ist aktuell und schreit - wenn auch „still“ - letzendlich nach Gerechtigkeit und Menschlichkeit, Würde und Prinzipien, höherer moralischen Werte und Liebe. Das lässt wohl keinen kalt. Und auch dafür, dass die Wirklichkeit in ihrem Buch im Vordergrund steht, egal wie grausam sie ist, sind die Leser der Autorin sehr dankbar.
Siehe auch die Rezension des Hörbuchs.
Ludmila Hück
4 ****
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© 2008 Ludmila Hück, Harald Kloth
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