Sprecher: Stefan Fleming
2 CDs
ISBN 3-902123-20-6
Spielzeit: 67:08, 66:18
Preiser Records 2001
Franz Kafkas "Brief an den Vater" umfaßt im handschriftlichen Original mehr als hundert Seiten und ist nicht nur deshalb weit mehr als ein bloßer Gelegenheitsbrief. Kafkas enorm ausdifferenzierter Versuch, seinen lebenslangen Vaterkonflikt mit allen bedrohlichen und auch irrationalen Implikationen sprachlich in den Griff zu bekommen, hat diesen an den Adressaten nie abgeschickten Brief zu einem bevorzugten Schlüsseltext psychologischer und psychoanalytischer Interpreatationen werden lassen. Geschrieben wurde er im November 1919 in Schelesen, wo Kafka einige Wochen Erholungsurlaub verbrachte. Im Jänner 1919 hatte er hier bei einem mehrmonatigen Kuraufenthalten Julie Wohryzek kennengelernt und sich mit ihr verlobt. Die Reaktion des Vaters auf diese neuerlichen, noch dazu "unstandesgemäßen" Heiratspläne des Sohnes, dürften wohl unmittelbarer Auslöser für den Rechenschaftsbericht in Briefform gewesen sein.
Preiser Records legt mit der ungekürzten Wiedergabe von Kafkas "Brief an den Vater" durch den österreichischen Schauspieler Stefan Fleming eine beeindruckende Interpretation vor. Die Unaufgeregtheit von Flemings Stimme findet mit kleinsten Nuancen in Tempo, Pausenökonomie und Stimmstärke zu einer Dichtheit, die aus einer akustischen Interpretation tatsächlich eine inhaltliche macht. Kafkas Text lebt von einer eigenartigen Widersprüchlichkeit: da ist der untertänige Sohn, der, sich selbst rechtfertigend, dem Vater die Genese ihres verqueren Verhältnisses erklären will und dabei fast überlaut die Figur des Vaters von jeder Schuld freispricht, und da ist der Ankläger, der durchaus entschiedene und auch harte Worte der Selbstbehauptung und Anklage findet, die auf der Textoberfläche freilich sogleich wieder zurückgenommen werden. Flemings interpretative Leistung ist nun, daß er genau diesen Widerspruch hörbar macht und mit Stimmführung und Tempovariationen das präsent macht und hält, was unter der scheinbar versöhnlichen Oberfläche tatsächlich an Haß und Schuldzuweisung verborgen liegt. Wenn im Text ständig beteuert wird, daß der Vater "freilich" nicht anders konnte, es "freilich" nicht böse meinte, dann wird in Flemings Interpretation ohne jede Exaltiertheit, mit einem Minimum an stimmlicher Variation hörbar, daß alle diese "freilich"-Beteuerungen eigentlich scharfe Ankagen sind und genau das Gegenteil meinen. Überspitzt könnte man formulieren, hier gelingt einer akustischen Interpretation das, worum sich viele Regalmeter Sekundärliteratur immer schon bemüht haben.
Daß diese CD-Produktion vom Hessischen Rundfunkt für die Hörbuch-Bestenliste ausgewählt wurde, ist mehr als verdient. Zur Gediegenheit der Produktion trägt auch ein kleines Booklet mit Basisinformationen zu Kafka und seinem Verhältnis zum Vater bei. Sehr gelungen auch die Gliederung des Textes in 16 inhaltlich wohldurchdachte Kapitelportionen. Als Überschrift fungieren die jeweiligen Absatzanfänge, aus denen das Thema des folgenden Abschnitts ersichtlich ist: Ich war ein ängstliches Kind ..., Die Schwestern gingen nur zum Teil mit mir ..., Ebensowenig Rettung vor Dir fand ich im Judentum ..., Richtiger trafst Du mit Deiner Abneigung mein Schreiben ..., Warum also habe ich nicht geheiratet usw. Die CD ist damit auch ganz gezielt nach thematischen Aspekten (wieder)abhörbar.
Evelyne Polt-Heinzl
26. Februar 2002