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Erwin Chargaff: Die Aussicht vom 13. Stock.

Neue Essays.
Stuttgart: Klett-Cotta, 1998.
215 S., geb.; DM 36.-.
ISBN 3-608-93433-2.

Wer sich mit unserer Welt nicht anfreunden kann oder will - und man könnte sie sich als überdimensionales Werbeplakat vorstellen oder auch als aktuelles Fernsehmagazin-Info-Programm, kann sich möglicherweise mit Erwin Chargaffs Aussicht auf diese Welt befreunden. Besser gesagt, mit der Aussicht eines Kulturpessimisten, mit der Ergänzung eines Pessimisten, der sagt, es gäbe kein "Nichts". Ein Pessimist, der - wie jedermann - weiß, "daß es so nicht weitergehen kann" (S. 66), und sich um eine Zeitkritik bemüht, die an allen Ecken und Enden wunde Punkte berührt.

Chargaff, selbst Chemiker und Naturwissenschafter, kritisiert gerade diese Naturwissenschaften samt der Technik und deren Impetus zur fortwährenden "Innovation"; es ist, als wäre die Menschheit an einem Punkt angelangt, wo eine Sogwirkung uns die Sinne beraubt und eilig vorwärts treibt in einem nicht mehr steuerbaren Fortschrittstempo. Und Chargaff, der sich offensichtlich anklammert, um zurückzublicken, kann nichts anderes vorschlagen als den "ganzen Menschen" und die "Menschlichkeit" - eine Rückkehr, wenn nicht zu vergangenen besseren Zeiten, so doch zu (den) Idealen. Dabei glaubt Chargaff nicht an den aufklärerischen Gedanken von der Erzieh- und Verbesserbarkeit der Menschen, schließlich sei der Mensch "nur soso, mal gut, mal schlecht, immer verwirrt" (S. 100).

Sieht man das Denken als eine Art zweischneidiges Messer, das mittels Begriffen zerteilt, so teilen die Denkmuster Chargaffs etwa in Vorwärts und Rückwärts ein, d. h. Vergangenheit und Zukunft, trennen Wirklichkeit vom Schein oder die Bösen von den Guten. Der Feinde gibt es unzählige: Gentechnik, Naturwissenschaft, Kapitalismus, freie Marktwirtschaft, Bioethik, postmoderne epigonale Kunst, Fortschrittsglaube, die Informationsgesellschaft des "information highway", Sieg der Technik und Naturwissenschaften, Sieg der volksverdummenden Medien (Fernsehen), des Computers und des Internets ("Weh!-Weh!-Weh!", S. 79), dieses "Werkzeug rapider Menschenverblödung" (S. 15), mit der dunklen Perspektive einer "kontaktlosen Bevölkerung [...] eingeladen, sich auf ein autistisches Leben vorzubereiten, jeder in seinem kleinen Loch, Sklave eines klimatisierten 'Multimedien'-Daseins" (S. 19).

Und sie alle werden vor dem Hintergrund dieses Jahrhunderts der Scheußlichkeiten und Massenvernichtungen sowie der jüngsten "Revolten von Konsumenten" (S. 55) und der Verwandlung der Sowjetunion von einer "Supermacht zu einem Supermarkt" (S. 28) en bloc sprachlich gekonnt abgefertigt - wobei angesichts all dieser "Weg-Schritte" eines unklar bleibt: Warum meint Chargaff, daß der Rückgang der Witwenverbrennungen kein Forschritt sei, mehr noch, fast ein Affront gegen eine "alte und daher ehrwürdige, fast religiös gewordene Tradition eines Volkes" (S. 84)?

Aber es ist nicht so, daß Chargaff allein die treffsichere Schwarz-Weiß-Zeichnung beherrscht. Immer wieder und gleichzeitig finden sich Gedanken, die gleich einer durchlässigen Membran zwischen den Gegensätzen und Polen vermitteln. Gedanken, die sich zwischen den Gegensätzen plazieren, also Unschärfen in der Unschärfe aufzeigen, wie eine beschlagene Fensterscheibe zur Welt. Chargaff ist ein Nostalgiker, ein Trauernder und Melancholiker, der bedauert, daß die Welt nicht mehr leise ist. Es ist ihm leid um jede Schmetterlingsart, die in dieser Welt ausstirbt. Immer noch lieber wäre ihm eine Welt der Dunkelheit, der Götter und "Dryaden", die immerhin die Phantasie der Menschen beflügeln. Chargaff glaubt, daß "in allen Menschen eine Sehnsucht nach dem Unerklärlichen" (S. 26) verborgen ist. Und nicht zuletzt produziere eine "Infektionskrankheit" genannt "Öffentliche Meinung" eine "Welt von Sklaven ohne erkennbare Treiber; eine Wüste, die wächst, und man kann nicht sagen, woher der Sand kommt; eine Sehnsucht, die in nichts mündet als Tod." (S. 61)

Mit diesem Nichts und diesem Tod deutet Chargaff mehr an, als greifbar, erklärbar ist; er selbst fragt noch, wo denn sein Anti-Nichts sei. Vielleicht ist in diesen neuen Essays selbst etwas davon zu finden - in der Vorstellung derer nämlich, die das heraufbeschworene Nichts in Angst versetzt.

Susanna Rupprecht
1. Jänner 1999

 

 

 

 

 

 

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