Er gilt der Literaturwelt zweifelsohne als Unikat, denn Stil und Art seiner Erzählungen sind bisher ohne vergleichbares Beispiel geblieben: Gemeint ist niemand anderer als Franz Kafka. Die Unabhängigkeit, die sich einerseits aus der Unmöglichkeit, sein Werk literaturgeschichtlich einwandfrei einzuordnen, andererseits aus den vielen textimmanenten Leerstellen, die charakteristisch für seine Texte sind, ergibt, scheint der Musikwelt wiederum ein idealer Punkt zum Anknüpfen zu sein. Dass sich Kafkas Texte so gut für Vertonungen eignen, liegt also im/am Text selbst begründet. Die Mannigfaltigkeit der musikalischen Umsetzungen oder Fortschreibungen der Texte ist enorm, und dennoch ist in dieser Vielfalt eine Konstante zu verorten: Das Düstere, der Hang zu moll-Tonarten oder zur Atonalität, zur schaurigen Entrückung sowie zum Irrationalen, aber auch zur illustrativen Programmatik, sind Bestandteile aller im Folgenden besprochenen konkreten Vertonungen von Texten Franz Kafkas, hier in chronologischer Reihenfolge ihres Erscheinens vorgestellt:
1) Gottfried von Einem: Der Prozess. Uraufführung von 1953. München: Orfeo, 1995.
Die Oper, auf den Salzburger Festspielen uraufgeführt, wurde vertont nach der textlichen Fassung von Max Brod - bekanntlich waren Pasleys oder die Stroemfeld-Ausgabe zu diesem Zeitpunkt noch nicht erschienen. Die Literaturoper ist in neun Bilder gegliedert, die teilweise nach den Kapiteln Kafkas betitelt sind, deren Schwerpunkt aber auf mehrere Nebenfiguren verlagert wurde. Als Beispiel kann hier das Kapitel Advokat/Fabrikant/Maler genannt werden, das die beiden Librettisten Boris Blacher und Heinz von Cramer zu jeweils drei einzelnen Bildern aufspalten. Im sehr informativ gestalteten Booklet wird darauf hingewiesen, dass der Grund dafür das Fehlen eines konkreten Gegenspielers Josef K.s sein könnte: Was im "Roman" funktioniert, ist operndramaturgisch scheinbar schwerer zu fassen. Die Musik Gottfried von Einems jedoch versucht, dem Text zumindest auf einer atmosphärischen Ebene gerecht zu werden und das undefinierbare Nebulöse des Textes, das wie zwischen Wirklichkeit und Traum hängt, widerzuspiegeln: Harmonisch, da die Musik zwischen Tonalität und Atonalität wie zwischen zwei Welten pendelt, rezeptionsästhetisch, da den Hörenden so die Kategorien modern und nicht-modern verwischt werden.
2) György Kurtág: Kafka-Fragmente. München: ECM Records, 2006.
In den Jahren 1985/86 vertonte György Kurtág teilweise sehr kurze Kafka-Texte, die jedoch nicht aus dem gewohnten Literaturkanon Kafkas, sondern zu einem überwiegenden Teil aus seinen privaten und nicht zur Veröffentlichung bestimmten Schriften stammen. Besonders und unmittelbar auffällig an dieser Literaturvertonung ist, dass das eingesetzte Instrumentarium aus nur zweien besteht: Sopran und Violine. Die als Kafka-Fragmente betitelten Stücke wurden 2006 von Juliane Banse (Sopran) und András Keller (Violine) eingespielt. Die Musik Kurtágs bleibt sehr nahe am Text und es gelingt ihm, äquivalent dazu eine "unkontrollierte" Welt zu erschaffen, wie das auch dem Text gelingt - wenn auch teilweise auf sehr plakativ illustrative Art. Großteils atonal, sehr bewegt in der Melodieführung und abwechselnd gesprochen, rezitativ oder klassisch gesungen, schafft es die Musik, das Textliche und dessen Aussagen zu untermauern und zu verstärken. Da sowohl der Musik Kurtágs als auch den Texten Kafkas eine "ungeheure Intensität der Gebärde" (Thomas Bösche) inne wohnt, ist das Resultat eine perfekt mimetische Vertonung.
3) Franz Kafka: Nicht einmal gefangen. Gestaltet von Otto Lechner. bibiothek der töne. Wien: Mandelbaum Verlag in Kooperation mit extraplatte, 2007.
Bei dieser Vertonung handelt es sich um Lesungen von Tagebucheinträgen und Erzählungen Kafkas, wobei die Texte im Stile eines Hörspiels durch das Akkordeon untermalt werden. Das Akkordeon ist die gesamte Aufnahme über das einzige Instrument, programmatisch und den Text begleitend, wie beispielsweise die Erzählung Ein Landarzt gestaltet wird, bleibt die Musik zurückhaltend und im Bereich der Stimmungsmalerei. Zwischen den Lesungen bringt Lechner vier eigene Songs - im Dialekt - ein.
4) Ernst Krenek: Sechs Motetten nach Worten von Franz Kafka. harmonia mundi, 2010.
Der RIAS-Kammerchor unter der Leitung von Hans-Christoph Rademann gestaltet die von Krenek in den Jahren 1958/59 komponierten Auftragsmotetten. Als textliche Basis hat dieser der Kafka'schen Prosa sechs Ausschnitte entnommen, die jedoch inhaltlich nicht zusammenhängen. In dieser Komposition begegnen sich nun - so Roman Hinke - zwei der fundamentalsten Weltskeptiker des 20. Jahrhunderts. Das Ergebnis ist atonale Chormusik in Zwölftonreihen, die es schafft, Wirrnis zu stiften, Unbehagen zu vermitteln und in Kombination mit dem Text irrational und geheimnisvoll zu wirken, aber dennoch nicht unverständlich zu bleiben: Textteile werden ineinander gesprochen, Textwiederholungen muten beschwörend an, ein sakraler, teils rezitativer Stil entrückt das Ganze teilweise sehr illustrativ und programmatisch in Richtung angstvolle Scheinwelt. Aber Krenek hält sich nicht immer an die programmatische Linie, sondern bricht auch damit, wie etwa mit der Musik zur Erzählung Der Weg, in der es bei Kafka ein Ziel aber keinen Weg gibt, Krenek jedoch einen Weg aber kein Ziel nachzeichnet.
5) Niklas Fuchshuber, Peter Valentin: das schloss. 2012.
Kafkas Prosatext Das Schloss wird hier in Ausschnitten musikalisch umgesetzt. Für die Vertonung wird eine volle Palette an unterschiedlichsten Instrumenten und Musikstilen verwendet: atonal, tonal, oft unentschlossen zwischen Dur und Moll, rezitiert oder gesprochen, von einer männlichen oder einer weiblichen Stimme gesungen, stellenweise mit nachdrücklich starkem Vibrato oder mit Effekten wie aus der Ferne gesprochen, dann jedoch wieder wie als Filmmusik zu einem Thriller inszeniert, fast pathetisch und hochtrabend. Der Rhythmus ist dagegen einheitlicher und kann als schritthaft und gleichmäßig wie stampfend schreitend beschrieben werden, stellenweise gerät jedoch auch das Metrum im Hintergrund aus dem Ruder und ein nicht mehr kontrollierbares Zittern entsteht. Es werden Geräuschkulissen mit läutenden Telefonen, springenden Bällen oder Schreibmaschinentippen eingesetzt, oder mit 3/4-Takt und einem Wulst an Grusel und schauriger Note klassische Zirkusmusik imitiert. Unablässig treibt ein gleichmäßig rhythmisches Maß, wie ein Gehen, weiter fort in eine geheimnisvolle, schaurige Welt hinein, ganz ohne Halt, punktuell hetzend und treibend, wie grell aufschrecken lassend, dann wieder düster dumpf und wie selbstverständlich fort grollend. Besonders auffällig ist, dass ein beachtlicher Teil der Gesamtinszenierung ohne Stimme und folglich ohne Text auskommt, scheinbar braucht es hier nicht immer den konkreten Text, um das Textliche in Musik zu transformieren oder weiter zu spinnen.
Lydia Haider
Jänner 2014