Leseprobe
„Die Studenten stierten weiter auf den Boden, dachten: Ein Vater mit seinem Kind. Da wandte sich Rondelet an sie, zwang sie aufzusehen. Sein Blick hatte sich verändert, von Schmerz zu Interesse. Er machte noch ein Kreuzzeichen, dann schnitt er in das Heiligste des Kindes: die Brust. Schreiendes Rot. Zu Dir kommt alles Fleisch. Ganz ohne Kraft war das Messer in die Haut gefahren, minimal der Widerstand. Die Brust, nach vorne gestreckt, klappte auf, als wollte ihn das Innere grüßen. Die Organe waren winzig. Die Lungen mit ihren Flügeln wie ein kleiner Vogel. Das Herz, das zu schlagen aufgehört hatte, passte mühelos in seine geschlossene Hand. Von selbst fand das Messer den Weg in die Eingeweide. Der Darm, die Blase, die Nieren, gar nicht zum Funktionieren gebracht. Die Welt eines großen mit der eines kleinen Körpers vergleichen – die Position der Organe, ihre Farbe, ihre Form, ihre Größe, ihre Anordnung, die Härte, die Weichheit, die Oberfläche, die Glätte, die Verbindung zwischen ihnen, die Erhebung und das Gedrücktsein, ob etwas in etwas anderes führt oder ob es selbst einen Teil eines anderen in sich trägt. Rondelet forderte die Studenten auf, die Organe zu entnehmen, bei der Entnahme genauestens vorzugehen, sie früheren Beobachtungen gegenüberzustellen, Abweichungen zu notieren und Auffälligkeiten zu benennen. Die Studenten waren ungewohnt zurückhaltend, starrten einfach in die offene Bauchdecke. Rondelet musste sie ermahnen, dass sie doch Ärzte und Gelehrte seien. Bundeli war der Erste – gerade Bundeli -, der sich aus der Starre löste und der Aufforderung nachkam.“
(S. 144,145)
© 2014 Schöffling & Co, Frankfurt am Main