Leseprobe:
Versäumnisse
Tag drei ohne Dialyse, sie waren immer noch auf der Alm. Draußen lag der erste Raureif in diesem Jahr, überzog die frisch gekämmten Wiesen und verdorrten Halme, die im August noch der Sense entkommen waren, mit einer hauchdünnen Schicht aus Wasserkristallen. Dazwischen, vereinzelt, violette Blitze der Herbstzeitlose. Karla ging es besser als erwartet, aber Angst vor dem, was noch auf sie zukommen würde, hatten sie trotzdem beide, auch wenn sie nach außen hin dem anderen gegenüber den Anschein zu erwecken suchten, unbekümmert zu sein. Anni beobachtete ihre Mutter so unauffällig wie möglich. Keine Brechanfälle, die Zucker- und Blutdruckwerte soweit unter Kontrolle. Wir ihre Haut fahler geworden oder lag es am Licht?
Die Australierin Bronnie Ware veröffentlichte 2011 das Buch The Top Five Regrets of the Dying – Fünf Dinge, die Sterbende am meisten bereuen. Und alle betrafen Versäumnisse im Leben, Dinge, die sie gerne getan, aus den unterschiedlichsten Gründen jedoch vernachlässigt oder sogar vergessen hatten: Ich wünschte, ich hätte mein eigenes Leben gelebt, anstatt es den anderen recht zu machen. Ich wünschte, ich hätte nicht so viel gearbeitet. Ich wünschte, ich hätte den Mut aufgebracht, meine Gefühle mehr zu zeigen. Ich wünschte, ich wäre mit meinen Freunden enger in Kontakt geblieben. Ich wünschte, ich hätte mir selbst mehr Glück und Aufmerksamkeit zuteil werden lassen.
Es war Zufall, dass Anni im Zuge ihrer Internetrecherchen zum Krankheitsverlauf ihrer Mutter auf das Buch gestoßen war. Und obwohl sie nicht wusste, ob es Karla helfen würde – vielleicht half Anni in Wahrheit sich selbst – kam ihr schon damals in den Sinn, ihrer Mutter davon zu erzählen. Meistens half Fremdhelfen ja nicht, weil man nur so helfen konnte, wie einem selbst gerne geholfen würde.
Anni hatte ein ähnliches Prinzip schon vor Jahren ausprobiert und ihre Ziele, Wünsche und Träume auf einen Zettel geschrieben, um sie schwarz auf weiß zu haben und später überprüfen zu können, wie weit sie gekommen war mit ihren Vorhaben und ihrem Leben, ob sie überhaupt irgendwohin gekommen war. Selbst in einer Folge der Serie Alf hatten lebensmüde Drehbuchschreiber diese Suche nach dem Sinn des Lebens thematisiert, in der damals Willie Tanner feststellen musste, dass er gescheitert war, ein wenig zumindest, wobei sich die Ziele in einem Leben mit den Jahren natürlich auch wieder verändern konnten. So wie bei Anni. Standen früher Abenteuer, Karriere, Geld und Landleben ganz weit oben auf der Liste, waren es heute eine erfüllte Beziehung, Zeit, Harmonie und Ruhe.
„Was hast du in deinem Leben alles versäumt, Mama? Was bereust du, bedauerst du, was würdest du gerne anders machen?“
„Darüber habe ich noch nie nachgedacht.“
„Dann lass uns jetzt darüber nachdenken. Lass uns darüber nachdenken und eine Liste erstellen. Deine Liste. Lass uns den Alltag, die Familie, die Pflichten und deine Krankheit vergessen und lachen, bis der Arzt kommt.“
Manche Menschen merkten erst am Ende ihres Lebens, dass das Streben nach Glück und Zufriedenheit eine bewusste Entscheidung war.
Sie hatten keine Zeit zu verlieren.
(S. 48-50)
© 2014 Klever Verlag, Wien