Leseprobe:
Die Verzierungen, die Ornamente des Tages sind noch eingefaltet, Teppichen gleich, die für den Transport gerollt und verschnürt werden. Weich und schwer liegt so ein Teppichstamm auf der Schulter auf, man riecht das Material, die Schafwolle, das Mottenpulver. Man kann sich vorstellen, wie es sein wird, wenn die Schnur, die ihn zusammenhält, durchgeschnitten und der Teppich auf dem Boden einer Wohnung, eines Zimmers zum ersten Mal ausgerollt wird. Dann liegt er da, noch unberührt von Schuhsohlen, Rotweinflecken, Spermaspritzern und den Spuren des ungeschickten Lieferanten eines Schocks Eier, dem der Teppich dereinst ein Bein stellen wird. Und seit langem fällt wieder Licht auf sein Muster, die Karos, Sterne und Zickzacklinien. Und in eben diesen Teppich werde ich mich einwickeln, um mich in einem Lastwagen über die Grenze schleppen zu lassen. Die Knoten der Webtextur werden sich gehörig in meine Wangen prägen, ich werde aussehen wie mit Ziernarben geschmückt. Doch von welcher Grenze fantasiere ich?
Die Sterne vom Muster des Teppichs haben aufgehört, zu funkeln und zu blitzen, nur wenige Tage, nachdem er ausgerollt wurde. Sie haben noch ihre Form, sind aber verlassen wie die Körperpanzer von Krebsen nach der Häutung, leblos wie an den Strand gespülte und an der Sonne vertrocknete Seesterne. Der Moment, da der Eierlieferant stolpern wird, ist nicht mehr allzu weit.
Erst beim nächsten Umzug werden die Teppiche wieder eingerollt, verschnürt und, auf Schultern aufliegend, in einen Lastwagen geladen und überstellt. Erst dann, so tuscheln die Sterne unter sich, setzt das Blitzen und Funkeln wieder ein. Und das ist das Schöne an der Arbeit: Nichts geht verloren, alles wird in der angemessenen Form gespeichert. Wir haben von Tieren und Pflanzen gehört, die jahrelang unter dem Wüstensand ausharren, bis endlich einer (und zwar einer, der von außen kommt, ein Fremder) die richtige Frage stellt und allgemeine Erleichterung darüber herrscht, antworten zu dürfen und zu können.
In der Zwischenzeit liegt ein Hund oder eine Katze im Sonnenviereck auf dem Teppich, eine nackte Frau lässt sich rücklings darauf nieder, ein Kind verwendet die Ornamente als Straßen für seine Spielzeugautos. Das ist vielleicht die Grenze, von der ich fantasiert habe, die Grenze zwischen Frage und Antwort. Wir versinken darin wie in Moos, in feuchtem Sand, und es bleibt nichts außer dem Augenblick, dem endlosen Speicher der Eindrücke, das Wohlwollen oder die Gnadenlosigkeit, mit der sich die Spur wieder schließt.
(S. 80f.)
© 2014 Jung und Jung, Salzburg.