Leseprobe
Im Spätsommer 1944 kehrte Schraga zum 10. Partisanenkorps nach Slowenien zurück. Lisl war dort inzwischen zu einem festen Bestandteil geworden. Ihre fingierte Identität als Krankenschwester machte sie sich zunutze, unterstützte die Partisanenkrankenhäuser in den Wäldern und arbeitete im Lazarett von Franja.
In den letzten Wochen war es in ihrem Gebiet etwas ruhiger geworden, die „Bandenbekämpfung“ wurde von den Deutschen vernachlässigt und nicht mehr als vordringlich angesehen. Die Alliierten waren bereits in Frankreich und die Befreiung von Paris wurde im Partisanendorf überschwänglich gefeiert. Die Faschisten wurden von allen Seiten eingekesselt und jedem war klar, dass diese missliche Situation nicht mehr lange andauern konnte.
Schraga und Lisl entfernten sich vom Trinkgelage und machten, wie es bereits ihre Gewohnheit war, einen Spaziergang durch den Wald. Der Nachmittag war lieblich und warm, der Boden duftete nach getrockneten Tannennadeln und feuchtem Moos. Der Frieden schien in greifbarer Nähe zu sein. Schraga trug den Waffengurt leger über seinem Hemd, Lisl war in Zivil, obgleich in Männerkleidung und Schnürstiefeln.
„Wenn das alles vorbei ist, werde ich wieder nach Wien zurückkehren“, sagte sie sehnsüchtig. „Denke ich an zu Hause, fallen mir immer der Wienerwald und der Graben ein, und die Torten vom Demel, obwohl ich dort immer nur vor der Auslage gestanden bin. Oft stundenlang, bis eine der Kellnerinnen in Spitzenhäubchen gerufen hat, ich soll nicht so deppert dreinschauen und mich schleichen. Eine Heimat in Eretz Israel kann ich mir ehrlich gesagt nicht vorstellen. Wahrscheinlich auch wegen der Sprache.“
(S. 149ff)
© 2015 Picus Verlag, Wien