Leseprobe
"Und Sie schreiben immer noch Eisenbahngeschichten?"
"Nein ... Ja ... Irgendwann habe ich begriffen, daß Talberg seine Geschichten erfinden mußte. Die Wirklichkeit gibt nicht viel her. Sie gibt das her, was man erfindet. Eigentlich ist es nur meine Aufgabe, die einlangenden Fundstücke zu beschreiben, zu identifizieren, in die Liste einzutragen und aufzubewahren. Aber dann nehme ich eines der Stücke und hänge ihm eine Geschichte an. Ihre Hirtentasche zum Beispiel, die Brieftasche mit dem Libellenmuster, das Bild Ihrer Tochter, ein Studiofoto, habe ich recht? Manchmal bleibe ich bei der Wirklichkeit, manchmal helfe ich der Wirklichkeit nach. Eine Zeitlang hatte ich keine Lust mehr, schlicht und einfach keine Lust, aber dann kam mir vor, daß die Dinge verschwinden, wenn ich sie nicht beschreibe. Nach und nach verschwindet die Art, die Spezies der Hirtentaschen zum Beispiel, oder die der bestickten Taschentücher, aber auch die modernen Dinge, der Walkman zum Beispiel, das Handy. Die Welt wird leer, wenn ich nicht schreibe. Die Welt ist schon so leer. Obwohl das Verlorene immer mehr wird, aber die Leute holen es nicht mehr ab, sie kaufen sich einfach etwas Neues, das fällt ihnen leichter, als eine Nachforschung zu beginnen. Immer mehr Handys Notizkalender Ohrgehänge Kuscheltiere Krawattennadeln, die wir verstauen müssen. Nicht hier, da drüben ..." Sie nickte in die Richtung der Glaswand. "Dabei sind seltene Dinge selten ... Ich meine, sie werden immer seltener, die ungewöhnlichen Dinge. Einmal ist eine Brieftasche hier auf dem Schreibtisch gelandet, und dort, wo andere Leute, Sie zum Beispiel, ein Familienfoto aufbewahren, steckte die schwarzweiße Ablichtung einer Möse. Sie haben richtig gehört, ein weibliches Geschlechtsorgan in Großaufnahme, die Schamlippen leicht geöffnet, schön mandelförmig, deutlich sichtbar im Wildwuchs der Haare, links und rechts der Ansatz der weißen Schenkel. Das Foto wurde abgeholt. Was glauben Sie, wem es gehörte?"
(S. 111-113)
© 2015 Otto Müller Verlag, Salzburg