Ernst Schmidbruch, der Präsident der Interkontinentalen Speisewagen AG, war dieser Tage einundsechzig Jahre alt geworden. Er war ein mittelgroßer, magerer Mann mit einem faltenreichen Gesicht, das mitunter einen höchst verkniffenen Ausdruck annehmen konnte. Man konnte jedoch nicht sagen – wie dies bei anderen faltenreichen Gesichtern der Fall sein mag –, dass die vielen Falten und Fältchen sein Gesicht durchfurchten. Dieses Bild stimmte bei Schmidbruch nicht. Viel eher drängte sich der Vergleich mit den säuberlich gebügelten und streng geordneten Falten eines plissierten Stoffes auf. Es war, als seien alle diese Falten und Fältchen nach einem bestimmten Schema in die stets glattrasierte Gesichtshaut des Präsidenten hineingelegt, hineingefaltet worden.
Es hätte vermutlich auch kaum jemanden verwundert, wäre dieses schmale hagere Gesicht plötzlich wie ein Fächer auseinandergegangen und hätte auf seiner ausgebreiteten Fläche ein unheimlich langes Inhaltsverzeichnis der verschiedensten Dinge und Vorkommnisse gezeigt. Wie abgelegte Akten lagen die Falten in diesem Gesicht, starr, unbeweglich und doch voll Spannung, voll geheimer, gut aufbewahrter Fakten – jederzeit greifbar –, voll unausgesprochener Drohungen hinter einem breiten, schmallippigen Mund, hinter gleichmütig dreinblickenden, blaugrauen Augen.
Präsident Schmidbruch war bekannt ob seiner Schweigsamkeit. Unter den Beamten und Angestellten der Interkontinentalen Speisewagen AG ging sogar die Rede, er wäre durch seine Schweigsamkeit Präsident geworden. Das war ein Gerücht, dessen Wahrheit niemand nachweisen konnte, nicht mehr. Trotzdem mag es kurz berichtet sein. Man sagt, Schmidbruch hätte damals, nach dem Tod des vorhergehenden Präsidenten, in seiner Eigenschaft als Direktor der Inspektionsabteilung eine Zusammenkunft der Hauptaktionäre arrangiert, bei welcher er die Versammelten um Vorschläge für einen Nachfolger des verstorbenen Präsidenten gebeten habe. Die Mehrheit der Aktionäre hat sich dabei auf von Stechenkamp geeinigt, der als Vertreter der Kleinaktionäre im Aufsichtsrat war und als ehemaliger Diplomat über ausgezeichnete Verbindungen verfügte. Dieser von Stechenkamp war ein äußerst geachteter, schon ziemlich alter Mann, der mit großer Ängstlichkeit auf seine Reputation bedacht war. Da er von den Geschäften, die ihm als Aufsichtsrat oblagen, nichts verstand, hatte er sich immer von Schmidbruch als Direktor der Inspektionsabteilung beraten lassen und war dabei immer gut gefahren. Als ihm Schmidbruch daher jetzt berichtete, dass er als Präsident vorgeschlagen sei, war es nur selbstverständlich, dass er diesen sogleich fragte, ob er dies annehmen solle. Auf diese Frage nun, so erzählt das Gerücht, habe Schmidbruch geschwiegen. Dieses vieldeutige Schweigen wäre der eigentliche Grund für den ängstlichen von Stechenkamp gewesen, die Wahl abzulehnen. Wie dem auch sei. Tatsache ist, dass von Stechenkamp in der Vollversammlung die auf ihn entfallene Wahl mit dem Hinweis auf sein Alter ablehnte und gleichzeitig in einer aufsehenerregenden Rede Schmidbruch als Präsidenten vorschlug.
© 2008 Kyrene Verlag, Innsbruck.