Leseprobe:
„Gestern und vorgestern regnete es, und morgen gehe ich in den Wald. Pilze schießen schnell aus dem Boden. Ich finde Knollenblätterpilze immer an demselben Ort, denn keiner pflückt sie. Und damit bereite ich dem Scheinleben, welches mein Mann führt, ein Ende. Ich schaffe den Schein ab, der sein Fortbestehen bedauernswert macht.
Ist meine Entscheidung monströs?
Ich wähle zwischen zwei Optionen. Das nennt man den freien Willen. Wer gab mir das Recht, meinen Mann zu töten? Niemand. Wen sollte ich übrigens um Erlaubnis bitten? – Wer erlaubte ihm, mich zu peinigen, auszunützen und zu manipulieren? Wer hat überhaupt das Recht, jemandem so etwas anzutun? Niemand. Und trotzdem tut man einem anderen alles Mögliche an. Ist der Angriff auf den Körper schwerwiegender als der Angriff auf die Seele? Sind wir nicht eben wegen der Seele menschliche Wesen? Ist nicht die Seele das Wesentliche an einem Menschen?
In unserer Beziehung steckt viel mehr als nur eine Ehe. Wir geben uns – uns selbst, mit Leib und Seele. Wir verstanden uns damals wie zwei Seelen, die einander einst, in einem anderen Leben, verloren hatten und so lange suchten, bis sie sich endlich in diesem Leben wiederfanden.“
(S. 60)
© Hollitzer Verlag, Wien 2016