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Leseprobe: Andrea Grill - "Der gelbe Onkel."

Tante Annie

Tante Annie war die Schwester der Großmutter, und doch glich sie ihr in nichts. Als ich sie kennen lernte, sah ich sie zunächst gar nicht, denn sie saß hinter der verschlossenen Tür ihrer Toilette und öffnete niemandem. Ihre Nichte stand mit glänzenden weißen Haaren vor der Tür, drückte ihre Handtasche fester unter den Arm, rief die Tante immer wieder, rief ihren Namen, Annie Annie Annie, und die Tante jammerte leise vor sich hin und blieb auf der verschlossenen Toilette sitzen. Vor der Klotüre versammelten sich neben der Nichte noch weitere erwachsene Menschen, sahen einander ratlos an, lehnten sich ratlos mit den Rücken gegen die Wände des Vorraums, schoben ihre Schuhspitzen hin und her. Schließlich kam auch der Nachbar und fragte, ob er helfen könne. Sie beschlossen, die Tür aufzusperren und die Tante herauszuholen, ob sie wollte oder nicht, und taten das mit einer Euro-Münze. Der Nachbar erwies sich als sehr geschickt im Aufsperren von Türen mit Münzen, und binnen weniger Sekunden gelang es ihm, das befreiende Knacken zuwege zu bringen, das anzeigte, dass die Tür offen war.

Tante Annie saß im Mantel auf der Klomuschel. Neben ihr standen zwei große Lederkoffer und eine Reisetasche, deren Henkel ihre Hände so fest umklammerten, dass man die Knöchel der Finger weiß hervortreten sah. Das Klo war mit Tante und Koffern so voll gestopft, dass niemand hineinkonnte, um sie herauszuholen. "Tante, komm doch, wir gehen Kaffee trinken", sagte die Nichte mit den glänzenden Haaren und streckte ihre Hand aus. Die Tante blickte entsetzt um sich, machte keine Anstalten aufzustehen, jammerte weiter leise und eintönig vor sich hin. Nur manchmal unterbrach sie das Wimmern, um kurz aufzuschreien. Das waren zarte Schreie wie von einem Kind und nicht von einer zweiundachtzigjährigen Frau. Sie trug schwarze Schnürschuhe und darüber Gamaschen, als würde sie gleich in den Regen hinauslaufen.

Der Nachbar packte die Tante unter den Achseln, hob sie samt Mantel und Schuhen von der Kloschüssel und trug sie von ihren Taschen und Koffern fort. Ihre Finger waren zu schwach, um das Gewicht, auch in der Luft schwebend, weiterhin umklammert zu halten. Er legte die Tante mitsamt ihren Gamaschen aufs Bett und begann ihr den Mantel aufzuknöpfen. "Nein, nein, nein", schrie die sanft und leise, doch es war ein Schreien, und die Furcht in ihren Augen sank tiefer.

Die Nichte konnte es beinah nicht mehr ertragen und trat zum Bett, streichelte die Beine der Tante, um sie zu beruhigen, doch die Tante zuckte bei jeder Berührung sichtbar zusammen. "Sie muss ihre Medizin kriegen", sagte die Tochter der Nichte, schüttelte ihre roten Haare und begann im Küchenschrank zu kramen. "Die Medizin ist im Nachtkästchen", sagte der Nachbar und beugte sich über die Tante zu dem kleine Kästchen, das unter einem gehäkelten Spitzendeckchen neben dem Bett stand. Inzwischen war es der Nichte gelungen, der Tante Mantel und Schuhe auszuziehen. Die Tante atmete langsamer und trank gierig das Glas Wasser leer, das man ihr gereicht hatte. Nun sollte sie noch ein zweites Glas Wasser trinken, diesmal mit den aufgelösten Tabletten darin. Das zweite Glas zu leeren, fiel der Tante schwerer, doch schluckte sie gehorsam und drückte danach ihre Augenlieder fest zusammen. "Sie schläft", flüsterten die Nichte und der Nachbar und die anderen, und die Tante öffnete die Augen und sagte: "Wie nett, dass ihr mich besuchen kommt, aber ich habe ja gar keinen Kuchen im Haus."

Die Tante richtete sich auf und wollte aus dem Bett, doch sobald sie das Gewicht auf die Beine verlegte, sackten die Beine seitlich weg. Jetzt saß die Tante am Bettrand und schaute verwundert auf all die Leute, die da in ihrem Schlafzimmer standen. "Aber setzt euch doch", sagte sie und machte eine weitläufige Geste, die im lichtdurchfluteten Wald der westlichen Wand des Zimmers endete. Das Schlafzimmer der Tante war auf der einen Seite mit einer Landschaft tapeziert, einem fünf mal drei Meter großen Foto einer Waldlichtung. Die von den Bäumen gefallenen Blätter reichten bis zur Lade des Nachtkästchens, und die Bäume wuchsen lebensgroß in die Zimmerdecke. Die Tante nannte das Panorama auf der Tapete ihren "Garten" und wurde nicht müde, vom Bett aus den Schatten zuzusehen, die durchs Blätterdach auf den Kiesweg fielen. "Lasst uns in die Küche gehen, damit sie sich ausruhen kann", sagte die Nichte und deckte die Tante mit dem wollenen Bettüberwurf zu.

"Sie denkt, dass die ins Jappenkamp muss", flüsterte sie dem Nachbarn in der Küche zu. Die Tante hatte ihre Jugend in Indonesien verbracht, damals, als Indonesien den Holländern gehörte. Im Gegensatz zu ihrer Schwester, die rechtzeitig vor dem Zweiten Weltkrieg in die Niederlande zurückgekehrt war und daher nur wunderbare Erinnerungen an Indonesien besaß, war sie geblieben und den Japanern in die Hände gefallen. Die Japaner errichteten Konzentrationslager und transportierten die Tante in eines davon. Der Nichte zufolge war das Jappenkamp der Grund für die Verschiedenartigkeit der Schwestern und die zunehmende Verstörung der Tante. "Danach kannst du nie mehr wieder derselbe sein", vermutete sie und ging schnell zurück ins Schlafzimmer, um nachzusehen, ob die Tante bereits eingeschlafen war. Als die Tante nach dem Krieg in die Niederlande kam, fiel ihr das Leben schwer. Immer war sie melancholisch und nachdenklich gewesen, und jetzt schloss sie sich im Klo ein. Der Nachbar schaute, als ob er gleich in Tränen ausbrechen würde, und verabschiedete sich.

In der Woche darauf erhielt die Nichte mitten in der Nacht einen Anruf von der Polizei. Sie hätten eine alte Frau am Straßenrand aufgelesen, die sich ihnen als Tante Annie vorgestellt hatte und diese Telefonnummer auswendig hersagte, wenn man sie fragte, wo sie zu Hause sei. Tante Annie hatte mitten in der Nacht einen Stuhl in den Garten hinausgetragen und sich damit an den Straßenrand gesetzt, mit nichts anderem, als einem Schlafrock bekleidet. Es war eine sternklare, eiskalte Nacht gewesen. Die Polizei hatte Tante Annie ins Krankenhaus gebracht, wo leichte Unterkühlung festgestellt wurde. "Ich sitze gern im Garten", sagte sie, als die Nichte ihr Vorhaltungen machte, dass das so nicht weiterginge, dass sie ihr Leben aufs Spiel setze mit diesen Aktionen, erfrieren könne sie während ihres nächtliches Bades im Mondlicht. Die Tante nahm alles hin und zuckte weder mit den Schultern noch mit den Mundwinkeln.
(S. 53-57)

© 2005, Otto Müller Verlag, Salzburg-Wien.

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