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Elias Hirschl: Hundert schwarze Nähmaschinen.

 

Leseprobe:

28. Oktober 2012

Ein ruhiger Tag für Herrn Klimek. Am Morgen war er gut gelaunt, hat sein Joghurt und einen Toast brav gegessen. Zu Mittag sind wir mit dem Rollstuhl eine Runde um den Block spazieren gefahren. Am Nachmittag hat er die Wand angeschissen. Abends ist er dann früh ins Bett gegangen und ohne Probleme eingeschlafen.

Wenn man täglich psychisch kranke Menschen um sich hat, entwickelt man mit der Zeit ein völlig anderes Verständnis von Normalität, was einen nach außen hin oftmals zynisch und teilnahmslos wirken lässt, obwohl es im Grunde eine völlig normale Gewöhnungsreaktion ist. Die zunächst seltsamen und nicht selten auch recht faszinierenden Äußerungen und Tätigkeiten der Klienten verlieren mit zunehmender Beschäftigungsdauer ihre überraschende Wirkung.
In der Praxis zeigt sich dieser Effekt beispielsweise darin, dass der bereits fünfzehn Jahre im Betreuten Wohnen beschäftigte Dirk mit den kaputten Stimmbändern, den tiefen Stirnfurchen, dem Militär-Kurzhaarschnitt und der schwarzen Hornbrille nicht mehr als ein resigniertes Kopfnicken übrig hat, als er bemerkt, dass Herr Klimek es wieder einmal geschafft hat, großflächig die Wand anzuscheißen. Dabei war das Nicken nicht etwa dem Umstand selbst gewidmet, sondern vielmehr der Tatsache, dass Herr Klimek dabei noch nie so nah an die Zimmerdecke herangekommen war und somit wieder einmal seinen eigenen Rekord im Wandanscheißen gebrochen hatte. Es war ein Nicken der Anerkennung, das auch einen gewissen Stolz in sich trug, da Dirk wusste, wie wichtig es Herrn Klimek war, von Zeit zu Zeit seine eigenen Leistungen im Wandanscheißen zu überbieten, weil dies die einzige Möglichkeit bot, zumindest einen Aspekt seines Lebens nach seinen eigenen Vorstellungen zu gestalten – mit Kot zwar, aber auch mit Begeisterung. Das Einzige, was Dirks solidarische Freude über Herrn Klimeks Rekord dämpfte, war das Wissen um seine Zuständigkeit bei der Reinigung der Wand.
Die zunehmende Gleichgültigkeit der Pfleger konnte man auch daran erkennen, dass sie sich im Gegensatz zu den gerade frisch eingeschulten Praktikanten und Zivildienern nicht einmal die Mühe machten, das Wandanscheißen groß zu dokumentieren. Während also die Praktikanten und Zivildiener sofort etliche Seiten ihrer Moleskine-Büchlein mit Beschreibungen über Konsistenz und Verteilung des Kotes und die geistige Verfassung seines Produzenten füllten, war es dem alteingesessenen Pfleger nicht einmal die Mühe wert, das Ereignis mehr als nur flüchtig in den allabendlich abzutippenden Tagesprotokollen zu erwähnen. Dafür war es einfach viel zu alltäglich.
Während sich Sophie, die blutjunge und topmodische vierte neue Praktikantin, sofort Notizen machte, wenn Herr Klimek die Wand anschiss oder Herr Mölzer wieder einmal anfing, von seiner Zeit als Geheimagent beim russischen Militär zu erzählen, und dabei alle möglichen Theorien darüber formulierte, schaute Dirk sie nur kopfschüttelnd an und registrierte, dass ihr Top hochgerutscht war, das neben einer erschreckend schmalen Taille auch Sophies Beweggrund für das Praktikum offenbarte: Nach Dirks Erfahrung würde sich kein Mädchen freiwillig eine Stelle im psychosozialen Bereich suchen, ohne nicht selbst zumindest die eine oder andere Essstörung mitzubringen.
Die enthusiastischen jungen Leute machen sich ihre Gedanken zu allem. Suchen nach Mustern im Verhalten von Schizophrenen, führen Thesen von Psychiatern und Psychologen ins Feld, um das Entstehen von psychischen Krankheiten zu erklären, verkünden, dass psychische Krankheiten nur ein Abweichen von der Norm darstellen und niemand das Recht habe, diesen armen Menschen Psychopharmaka aufzuzwingen und schreiben dann ihre Bachelorarbeiten über die Phänomenologische Deutung der Schizophrenie. Es gibt so viel Forschung über psychische Krankheiten wie nie zuvor, denkt Dirk, und dennoch gibt es nach wie vor so gut wie keine Ansätze, um eine Krankheit wie Schizophrenie zu heilen. Ja, das Wort "heilen" hat in diesem Fall sogar einen nazimäßigen Beiklang, weil die Schizophrenie eine Krankheit ist, die die Identität eines Menschen so stark prägt, dass man sich die Person oft gar nicht mehr ohne Krankheit denken kann. Die Krankheit macht in einigen Fällen so viel von der Persönlichkeit aus, dass eine Heilung einer Auslöschung der Identität gleichkommen würde.

(S. 47–49)

© 2017 Jung und Jung, Salzburg-Wien

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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