Rita singt Isoldes Liebestod. So allein auf der großen, leeren Bühne, in ihrem einzigen schwarzen Kleid, das auch zu Beerdigungen dient. Es endet über Knien, die erstaunlich rund sind. Sie trägt hohe Schuhe, um größer zu erscheinen, doch es war falsch, denn sie fühlt keinen Boden unter den Füßen. Die Panik ist vollkommen, also ist sie ganz ruhig. Vom Repetitor am Klavier begleitet, gibt sie alles, was sie an Klang, Fülle, Leidenschaft und Todessehnsucht zu geben hat. Wagners erotische Konzeption der Welt. Isoldes Verlangen nach ewiger Liebe. Ritas Feuerprobe vor ihren Richtern. Sie kann sie nicht sehen, sie sitzen im Dunkeln, dem großen, schwarzen Loch, von dem die Stemm immer gesprochen hat. Sie kann sich nicht hören, nur die Begleitung, und sieht nichts außer dem ausdruckslosen Gesicht des Klavierspielers. Er kommt aus Afghanistan, und vor dem Auftritt hat er ihr erzählt, dass er geflohen ist, nachdem die Taliban die Musik verboten hätten. Er war sehr freundlich, und sie verliebte sich in ihn.
Sie hat Isolde tausendmal gesungen, und es ist das erste Mal. Ewig lange Bogen auf einem Atemzug. "Mild und leise" kommt zu tief, sie fühlt es, ein Augenblick der Verunsicherung, sie fängt den mahnenden Blick des Klavierspielers ein, und dann hört sie ungeduldiges Räuspern aus dem Dunkeln.
Ein Ball rollt auf die Straße, ein roter Ball, und sie läuft ihm nach und weiß, dass sie es nicht tun sollte ... der Klavierspieler aus Afghanistan, der Rafael heißt, hat aufgehört zu spielen. Er sieht sie an, und jetzt erst hört Rita die Stille. Sie ist das schrecklichste Geräusch, das sie je gehört hat, nein, das Quietschen der Bremsen war noch schlimmer. Sie sollte jetzt etwas tun, ein paar Worte sagen oder in Ohnmacht sinken. Oder sterben. Noch besser. Nicht mehr steigerungsfähig.
"Vielen Dank für Ihre Vorstellung."
Das ist eine Stimme aus dem Dunkeln. Der Klavierspieler ist aufgestanden und schließt sein Notenbuch.
"Wir melden uns bei Ihnen." Irgendjemand sagt diesen Satz mit mörderischer Beiläufigkeit. Sie kann ihn nicht sehen.
Sie hört Schritte im Dunkeln. Weiß, dass sie jetzt gehen sollte, von der Bühne abtreten. Nur ist es so, dass sie sich nicht bewegen kann. Nicht will, dass die Zeit weiterläuft, sondern zu Ende ist. Isolde stirbt. Vorhang. Applaus.
Rafael nimmt sie sanft am Arm und führt sie durch eine Eisentür in den Gang hinter der Bühne. Es ist gut, dass sei sich noch bewegen kann. Er fängt sie auf, als sie stolpert. Er ist sehr freundlich, schon dafür kann man jemanden lieben. "Wie war ich?"
"Nicht schlecht. Aber die Isolde war eine gewagte Wahl. Wie alt bist du?"
"Dreiundzwanzig."
"Zu jung, um einen Wagnertod zu sterben."
(S. 59 f.)
© 2002, C. Bertelsmann, München.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.