Leseprobe (Romananfang):
»Lily?«, wisperte eine unbekannte Stimme nah an meinem Ohr. So nah, dass ich den Atem des Sprechers hätte spüren müssen. »Lily, Lily.« Aufgeschreckt aus dem Schlaf, schlug ich blindlings um mich. Meine geballte Faust traf die Wand neben meinem schmalen Bett. Keuchend sank ich zurück auf das Kissen, riskierte einen Blick in das dämmrige Zimmer und wartete, dass der rasende Puls sich beruhigte. Draußen musste der Tag bereits begonnen haben, denn man hörte durch die geschlossenen Fenster und Jalousien bereits das vertraute Rattern der Räder auf dem Kopfsteinpflaster der trostlosen Euston Road und die groben Rufe der Fuhrmänner und Lieferanten. Meine schmerzende Hand und die blutigen Knöchel reibend, stand ich langsam auf und suchte nach meiner Brille. Ein Teil von mir schien immer noch nicht ganz wach zu sein und tappte durch ein Labyrinth aus verblassenden Traumbildern. Ich konnte mich jedoch kaum an etwas Greifbares erinnern, nur an das eine Wort. Die Stimme eines ängstlichen Kindes, das nach seiner Mutter verlangt.
Meine bescheidene Unterkunft, eine Dachkammer, hatte kein eigenes Bad. Ich goss Wasser aus dem Krug in die Waschschüssel und wusch mein Gesicht, bevor ich mich ankleidete. Die erfrischende Kälte vertrieb das beschämende Gefühl der Hilflosigkeit, doch ich musste erst Luft und Licht in die Stube lassen, bevor ich einen klaren Gedanken zu fassen vermochte. Diese Kinderstimme: Sie hatte so fremd geklungen. Das war es, was mich beunruhigte. Ich konnte sie nicht einordnen. Sie hatte nichts gemein mit den üblichen Wachträumen, mit den Empfindungen und Visionen, die immer wieder aus der Tiefe meines Bewusstseins auftauchten wie schillernde Luftbläschen aus einer dunklen Quelle am Meeresgrund.
Meine Vergangenheit blieb in unwillkürlichen Gedankengewittern erschreckend lebendig. Mehr als vier Jahre nach dem Ende des Großen Krieges schien ich nicht ganz in der Gegenwart angekommen zu sein, und manchmal meinte ich, am helllichten Tag die näherkommenden Einschläge, die gebrüllten Befehle der Offiziere und die gemurmelten Gebete der Kameraden zu hören. Ein stechender, säuerlicher Geruch in einer engen Seitengasse konnte mich durch die Zeit zurück in die Gräben der Westfront katapultieren. Ein Gesicht in der Menge verwandelte sich plötzlich in das des hoffnungslos lächelnden Jungen, der mich ansah, um gleich darauf in einer Wolke aus Blut und Dreck zu verschwinden.
»Sie sind nicht der Einzige«, hatte der Arzt gesagt und dabei vielleicht nur auf seine eigenen Sorgen angespielt.
Manchmal wirkte er auf mich wie die bloße Hülse eines Mannes, den der Kummer ausgehöhlt hatte. Seine Worte klangen so müde und leer, als würde er sie täglich hundertmal wiederholen, und meine Gedanken schweiften ab, sobald mein Blick auf die zwei schwarz gerahmten Fotografien auf dem Bücherregal hinter ihm fiel. Seine Söhne vermutlich. Die Geschichten werden austauschbar, hat man erst eine Uniform angezogen.
»Ich könnte Ihnen Medikamente verschreiben. Beruhigungsmittel. Schlafmittel. Mein Rat aber ist: Sobald Sie Stimmen hören, lauschen Sie. Antworten Sie meinetwegen. Wenn Sie Bilder sehen, schauen Sie genau hin. Verschließen Sie Ihre Augen nicht vor der Wahrheit, öffnen Sie Ihre Sinne. Nur so lernen Sie, das Unerträgliche zu ertragen.«
Ich glaube nicht, dass er mein Problem wirklich erfasste. Ja, ich hatte Entsetzliches erlebt und getan, und diese Schrecken hatten ihre brennenden Spuren aus Schuld, Reue und Verzweiflung hinterlassen. Da ich gar nicht erst versuchte, es zu verdrängen oder zu leugnen, konnte ich morgens in den Spiegel blicken, ohne den Wunsch zu verspüren, mir eine Kugel in den Schädel zu jagen. Was mir wirklich zu schaffen machte und mich langsam zermürbte, war das scheinbar ewige Fortdauern dieser Episode, mit der ich eigentlich abgeschlossen hatte. Längst hatte ich mir ein neues Leben aufgebaut, studiert, eine Doktorarbeit über Riemann'sche Geometrie begonnen, mich in Fragen vertieft, die nichts mit dem elenden Krieg und seinen Verheerungen zu tun hatten. Doch die Schatten ringsum unterhielten sich weiter zwanglos über ihr »Ticket nach Blitey«.
© 2019 Steidl Verlag, Göttingen