Leseprobe:
in der Métro begafft wie einer aus der Anderswelt, die Métro hat keine erste Klasse, doch sie hebt auch keine Unterschiede auf, ich spüre, was es heißt, sich nicht wohlzufühlen in der eigenen Haut, an der Gare du Nord steigen viele aus, spätestens ab Réaumur-Sébastopol sind Bleichgesichter wie ich in der Überzahl, Étienne Marcel, Les Halles, Châtelet, Cité,
manchmal besuche ich meine alte Vermieterin, wir trinken Kaffee, ihre Wohnung erinnert mich an jene meiner Großeltern in Hannover, die Räume hoch, im kleinen Salon ein Klavier, ein verglaster Bücherkasten, wir sprechen über Literatur und deren Möglichkeiten, ob ich immer schon Schriftsteller hätte werden wollen, erkundigt sie sich, ich müsse in der Schule gut gewesen sein in den Sprachen, was ich verneine, das einzige Fach, das mich interessierte, war die Geschichte, in meinem Zimmer wohnt neuerdings ein Amerikaner, ein grobschlächtiger Kerl, der an einer Biographie über Hemingway arbeitet, er übernachtet nur hier und das nicht jeden Tag, meist betrinke er sich in der Closerie des Lilas, sie fragt nie nach den Gründen für meinen Umzug, wir reden über die neuesten Nachrichten aus meinem Heimatland, ob ich befürchte, dass die Rechten übernehmen, will sie wissen,
wer jahrelang keine Gelegenheit auslasse, eigene Ideale ins Lächerliche zu ziehen und sie zu verramschen, um an der Macht zu bleiben, dürfe sich nicht wundern, dass die Rechte wiedererstarke, sage ich bei einer Podiumsdiskussion, der Gewerkschaftsbund hat dazu eingeladen, "70 Jahre nach dem Anschluss" lautet der Titel der Veranstaltung, sie widmet sich der Frage, wie wichtig ist Erinnerungskultur, ich ernte wenig Applaus für meine Aussagen, im Publikum murrt einer, warum müsse man ausgerechnet einen Deutschen aufs Podium setzen, und dass ich einer sei, höre man mir ja an, der Moderator fordert Sachlichkeit und klärt auf, während ich in Gedanken zurückkehre in einen Kindheitswinter und mich frage, was gibt es groß zu erklären,
ich bin vier, als meine Eltern mich nach Tirol holen, sie leben schon seit mehr als drei Jahren dort, die Frau mit dem blütenweissen Haar, auf deren Schoß ich täglich saß, wenn sie das Piano öffnete und zu spielen begann, misst mich mit enttäuschten Blicken, als hätte ich etwas angestellt, sie schüttelt den Kopf, in ihren Augen sind Tränen, ich will nicht weg von ihr, meine Mutter drängt zum Aufbruch, mein Vater schweigt, wir fahren los und immer tiefer hinein in verschneite Landschaften,
vierzehn Jahre später klappe ich das Piano zu, als ich meinen Vater zum ersten Mal weinen sehe, am Esstisch sitzt er, die Hände vorm Gesicht, ich habe Semesterferien, die letzten meiner Schulzeit, tagsüber bin ich im Stemmbogen Anfängern vorausgefahren, ich starre aus dem Fenster, sehe Liftspannungsseile, hantle mich an ihnen in eine Zukunft, bald habe ich Matura, bald geht es nach Paris, bald lasse ich alles hinter mir, ich laufe durch die Tuilerien, über die Place des Vosges, biege ein in die Rue de Rivoli, von einem Jahr ins nächste, etwas jagt mir nach, etwas treibt mich an,
meine Großmutter sagt, wach auf und setz dich ans Klavier, ich stehe vorm Palais de Tokyo.
(S. 168-169)
© 2019 Haymon Verlag, Innsbruck Wien