Er schlug den Eintrag über Wallek nach: Der Artikel war mit einem Autorenkürzel versehen: Strigls Kürzel. Fünfzehn neutral klingende Zeilen über ein ganzes Musikerleben. Die Emigration Walleks wurde dezent umschrieben: 1938 musste er neuerlich der Gewalt weichen, lautete die um Einverständnis mit dem Leser heischende Information. Er musste der Gewalt weichen: Wir deuten nur an, was geschehen ist, Sie, lieber Leser, verstehen schon, was wir meinen, so genau wollen Sie es vielleicht auch gar nicht wissen. Er musste der Gewalt weichen.
Fünfundzwanzig Jahre nach dem Ende der Naziherrschaft lautete die Formulierung für zur Emigration gezwungen, aus dem Land entfernt, unscharf: Er musste der Gewalt weichen. Als sei die Gewalt ein für seine Handlungen verantwortliches Subjekt. Aber die Gewalt war keine Person und keine Allegorie, die Gewalt, das waren Menschen, Beamte, Familienväter, Angestellte, Pensionsberechtigte, Vollzugspersonen. Was sich in dem Lexikonartikel lapidar Gewalt nannte, waren auch damals konkrete Menschen mit Gesichtern, Kreislaufproblemen, mit Stuhlgang, mit Urlaubsanspruch. Er musste der Gewalt weichen, das war die verharmlosende Umschreibung für: Es kann nicht geleugnet werden, dass der Vorgang der Emigration ein gewaltsamer war, aber er war möglicherweise unabwendbar. Jedenfalls nicht von menschlichen Individuen verantwortet. Er musste der Gewalt weichen, das klang hier nach: Vorsehung, Schicksal, nach Lauf der Geschichte. Es war so gekommen. Es musste vielleicht so geschehen sein. Er musste der Gewalt weichen hieß hier auch: Hier werden keine Täter genannt. Hier wird nicht nach Tätern gefragt. Es handelte sich schließlich nur um eine Lexikoneintragung (sic). Vielleicht hieß es auch: Hier werden Täter geschützt. (S. 247)
© 2008 Picus Verlag, Wien.