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Leseprobe: Michael Köhlmeier - "Nachts um eins am Telefon."

Der Garten Eden.

Ich stand bei den gekühlten Milchprodukten, eine Hand hielt ich ausgestreckt, sie wies auf die Becher mit Frischkäse. Wer mich fest im Blick hatte, musste sich freilich denken, ich sei in einer Bewegung erstarrt, musste sich denken: Dem ist ganz plötzlich ein schwerer Gedanke gekommen. Wer mich jedoch nur unaufmerksam wahrnahm, gleichsam aus dem Augenwinkel, der dachte sich, wenn er sich überhaupt etwas dachte: ein Mann, der nach Milchprodukten greift. Er würde meine Starre nicht bemerken. Er würde das starre Bild als Teil einer Bewegung nehmen. Der semantische Rekonstrukteur in seinem Hirn würde aus mir einen normalen Mann machen, der nach einem gekühlten Milchprodukt greift. Dieser Trick erlaubte es mir, Mutter und Sohn bei ihrer Tätigkeit zu beobachten.
Als die Brote alle im Regal lagen, streichelte die Mutter dem Buben über die Wange. Da lächelte er und neigte ihr seinen Kopf entgegen. Sie nahm ein Messer, schnitt eine Semmel in der Mitte durch, ging hinter der Theke zur Wurst, hob mit einer Gabel ein paar Scheiben Lyoner auf, schnitt eine Essiggurke in Scheiben. Der Bub saß derweil auf der leeren Brotkiste und starrte vor sich nieder.
"Hol dir einen Kakao!" sagte die Mutter.
Der Bub stand auf, trat neben mich, nickte mir zu, nahm eine Flasche aus dem Kühlregal und setzte sich wieder auf seine Kiste. Er drückte die Flasche an seine Stirn. Hatte er Kopfschmerzen? Solche, wie ich sie im Sommer noch manchmal habe? Solche, die aus den Augenhöhlen in die Stirn hinaufkriechen? Zwischen meinem zwanzigsten und dreißigsten Lebensjahr hatte ich jeden Morgen Kopfschmerzen. Mein zweites Leiden hieß Langeweile. Als Kopfschmerzen und Langeweile sich verflüchtigt hatten, las ich in einem Buch über den französischen Philosophen Blaise Pascal, dass Langeweile eine der edelsten Empfindungen des Menschen sei, weil sie von einer unbefriedigbaren Seele Zeugnis ablege, weil sie aus einer unendlichen metaphysischen Sehnsucht des Menschen entspringe, weil sie von einem Anspruch an die Existenz erzähle, der höher sei als alle Geschenke Gottes. Wenn selbst der ausgestirnte Himmel nicht mehr als ein müdes Achselzucken auszulösen vermag...
Die Mutter wickelte die Wurstsemmel in Alufolie und steckte sie in die Schultasche ihres Sohnes. Dann küsste sie ihn auf die Lippen. Der Bub ging an mir vorbei, sagte "Auf Wiedersehen!" und verließ den Laden.
(S. 84f)

© 2005, Deuticke Verlag, Wien.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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