An diesem Nachmittag unternimmt sie also, mit einer neuen Ausgelassenheit, einen Streifzug durch die Räume des Sanatoriums. Dabei verspürt sie zum ersten Mal, seit sie aus dem Dienst geschieden ist, das Bedürfnis, sich einem Bücherregal zu nähern. Früher hat sie ständig gelesen, hat sich fortgebildet, vor allem für die Schule. Eine Lehrerin, die nicht liest, kann ihren Beruf nicht ausrichten. Langsam schreitet sie die Bücherwand entlang, ihr Zeigefinger tippt auf Rücken, auf Titel. Viel medizinische Fachliteratur zu trocken für diesem melancholischen Nachmittag. Da und dort Belletristik der erbaulichen Sorte, aber nach diesen Büchern will sie nicht sofort greifen. Wahrscheinlich wird sie bei ihnen landen; aber ihr Stolz, ihre Ansprüche an sich selbst lassen sie noch ein wenig weiterstöbern. Und so stößt sie auf etwas, das sie in der Bibliothek einer so ausgezeichneten Anstalt nicht vermutet hätte. Breit und dunkelblau prangt da die Scharteke des ehemaligen Staatsoberhauptes: Name, Titel, Parteizeichen in Goldprägung. Dass dieses Buch überhaupt noch in Umlauf ist. - Vielleicht hält die Sanatoriumsleitung diese Lektüre für historisch interessierte Gäste bereit. Obwohl keine Gefahr droht, fröstelt sie. Während sie die Weste über der Brust zusammenzieht, sieht sie sich um. - Soll sie es wagen?
(S. 88/89.)
© 2005, Schöffling Verlag, Frankfurt / M.