Seit unserer Flucht über die Berge litt ich infolge der psychischen Belastungen an hormonellen Störungen. Nach etwa einem Jahr endete mein Status als Rot-Kreuz-Kind ohne jeglichen Anspruch und ich kam in die Kategorie der "normal" internierten Flüchtlinge, die zwar nicht sonderlich viele Rechte besaßen, aber jedenfalls mehr als ein Kind.
Das Leben bzw. meine Situation begann sich damals für mich zu normalisieren: Ich hatte Arbeit, ein sauberes Bett, genug zu essen, besaß ein, seltener zwei Kleider und Sandalen, konnte die Sonne genießen, ebenso den Lago, der mich an das Meer erinnerte, und die Verehrer, die sich einstellten. Ich war zu unwissend und zu jung mit meinen siebzehn Jahren, um mir Sorgen zu machen. Wohl bekam ich die Schwierigkeiten mit, die meine Mutter mit der Lagerleiterin von Brissago hatte. Lange Zeit war ich auf mich gestellt gewesen und hatte gelernt, so gut es ging für mich selbst zu sorgen und ein starkes Ego zu entwickeln. Diese Erkenntnis muss besonders für meine Mutter schmerzhaft gewesen sein: Schon längst war ich nicht mehr das "folgsame Kind" und ihrer Autorität entglitten.
© 2001, Czernin Verlag, Wien.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.