"[...] Man redet über das Geld und der Rest ist einfach nicht da. Wissen Sie, dass es in allen möglichen Ämtern noch Unterlagen über die Enteignung von jüdischem Vermögen gibt? Es hat sich bloß lange niemand darum gekümmert. Weil es nicht gibt, was es nicht geben darf. In der Psychoanalyse nennt man das Verdrängung. Da wird Abstand gesucht, alles, was an den Kern des Problems geht, vermieden. Kommt jemand dem Kern zu nah, dann sind die Reaktionen Ablehnung, Wut, die Sache kann eskalieren. Warum, glauben Sie, ist es sonst möglich, dass in unserem Land SS-Männer von Politikern belobigt werden, dass antisemitische Aussagen keine Konsequenzen haben? Weil weitgehend verdrängt wurde, dass es sich dabei um die direkte Fortschreibung der Nazizeit handelt. In einer Demokratie eben. Und zum Glück ohne die extremen Machtmittel für Einzelne." Sie seufzte und lächelte dann. "Entschuldigen Sie, jetzt habe ich Ihnen einen Vortrag gehalten. Aber irgendwie neigt unsere Branche dazu. Wenn sich das Ganze einfacher und kurzer formulieren liesse, wäre es leichter, die Botschaft bei mehr Menschen rüber zu bringen. Aber wie? Ich weiss es nicht. Wahrscheinlich kenne ich zu viele Details."
"Es interessiert mich", murmelte ich. Und das war wahr. Dora Messerschmidt war anders als der selbstgerechte Journalist von "oston Today". Glaubwürdig.
"Janes Großmutter hat ihre Vergangenheit auch verdrängt. Auf eine andere Art und Weise", sagte ich dann.
"Gut möglich. Es war für sie offenbar der einzige Weg, um leben zu können. Aber von Verdrängung kommt nichts Gutes. Und sie glingt nicht vollständig. Denken Sie bloß an die Briefe, die sie aufgehoben hat. Wichtige Zeitzeugnisse für uns. Aber für Jane Cooper waren sie der Auslöser, um nach Wien zu fahren, um ganz allein nach ihren Wurzeln zu suchen. Und sie ist ermordet worden."
"Sehen Sie einen Zusammenhang?"
Die Zeitgeschichtlerin schüttelte den Kopf. "So einfach kann man es sich nicht machen. Keine Ahnung. Tatsache ist jedenfalls, dass das Haus nicht ohne weiteres durch einen Prozess rückgestellt werden kann. Die jetzigen Eigentümer bräuchten sich also wenig Sorgen zu machen. Allerdings gibt es in den letzten Jahren viele, die aufgrund der tendenziösen, manchmal bloß auch schlampigen Berichterstattung nervös geworden sind. Sie nehmen an, dass sie von heute auf morgen ihre Wohnungen zu verlassen haben, wenn die ehemaligen Besitzer das fordern." Sie lachte. "Absurd, wenn man es bedenkt. Es waren die Juden, die von heute auf morgen diese Wohnungen verlassen mussten."
"Warum haben so viele Leute zugesehen? So viele mitgespielt?"
"Geldgier und Neid. Das waren damals gute Motive und sie sind es wahrscheinlich heute auch noch. Da glaubt man gerne, dass Juden ohnehin Untermenschen sind. Dass ihnen ihr Eigentum nicht zusteht. Das war eine gute Entschuldigung. Egal ob es sich um altes Silberbesteck oder um ein Wohnhaus handelt. Die Leute hatten die Chance, zu stehlen, und dafür auch noch eine politische Rechtfertigung."
(S. 189f.)
©2001, FOLIO Verlag, Wien, Bozen.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.