Ein klein wenig überrascht war Anna Gemini schon, als es klingelte. Eher hatte sie damit gerechnet, daß es noch einige Zeit, einen Tag mindestens, dauern würde, bis dieser Chinese auftauchte. Aber er schien einer von der schnellen Sorte zu sein. Oder von der übereilten. Und dann besaß dieser Mensch auch noch die Unverfrorenheit ...
War das unverfroren, sich als Detektiv vorzustellen? Also höchstwahrscheinlich die Wahrheit zu sagen. Als spucke man auf einen blitzblanken Parkettboden.
Nun, immerhin beeindruckte es Anna Gemini. Auch beeindruckte sie, daß der Mann, dem sie nun die Türe öffnete, sich weder schmierig, noch aggressiv gab, sondern tatsächlich in der Art derer, die immer dünne Halbschuhe trugen. Nämlich gebildet. Und zwar dadurch, dass er sogleich beim Eintreten jenen im Flur aufgehängten Dobrowsky erkannte. Was nun keineswegs selbstverständlich war. Die Gemälde dieses späten Expressionisten mochten zwar unter einschlägigen Sammlern bekannt sein, besaßen aber nicht den Emblemcharakter eines Kokoschka und schon gar nicht den Bekanntheitsgrad von Kalenderblättern, die an jeder Ecke hingen und Schiele oder Klimt hießen.
Und da kam also dieser Chinese bei der Türe herein, grüßte höflich und akzentfrei, warf einen kurzen Blick in den Raum und sagte: "Ein Dobrowsky. Sehr schön."
"Oha! Sie verstehen sich auf Kunst", konstatierte Anna, während ihr gleichzeitig auffiel, daß der linke Ärmel von Markus Chengs Mantel flach in die Tasche führte. "Ich kenne mich mit allem aus", erklärte Cheng. "Mit allem ein wenig. Zum Spezialisten hat es nicht gereicht. In keiner Disziplin. Leider. Darum der Beruf des Detektivs. Ein Beruf für Autodidakten." (S. 201)
© 2006, Piper Verlag, München - Zürich.