Ich gehe mit meinem Sohn ins Naturhistorische Museum in Wien. Als ich einige Schritte gegangen bin, stoße ich auf die Grabstelle. Die Skelette sind so wieder in den Sand gelegt, wie sie gefunden wurden, und ein rundes Glasdach ist darübergestülpt. Obwohl nur Skelette, sind die Körper für mich so deutlich vorstellbar, daß ich meinen Blick von der ungewöhnlichen Lage der Toten nicht abwenden kann und mir klar wird, daß jene Menschen noch lebend in jenes Grab gezwungen oder gelegt worden sind. Ich sehe aus dem Fenster und es regnet. Es wurde verlauutbart, mit kleinen Kindern nicht im Regen spazieren zu gehen. Die Wolkendecke schiebt sich langsam nach Süden und ich nehme an, daß radioaktive Teilchen darin enthalten sind. Ein Reaktorkern brennt. Hiroshima war ganz einfach verschwunden. Aus einer seltsamen flachen Wüste ragen einige verkohlte Bäume und halbzerstörte Betonwände empor. Es fehlen alle Anzeichen des Lebens. Kein Grün, kein Gras, keine Blätter, nicht einmal Insekten beleben die Wüste. Hie und da begegnen mir Männer mit entstellenden Gesichtsnarben, manche Frauen haben den Kopf mit Tüchern verhüllt, weil ihr Haar ausgefallen ist. Ohne Richtung und Ziel streifen die Menschen wie Geister durch die Landschaft. Heute ist unser Wunsch, in der vergänglichen Welt die stabilen Muster eines Lebenszyklus zu erkennen, so stark wie zu der Zeit, als die ersten Schöpfungslegenden entstanden. Nur die Weise, in denen sich das Wesen jenes Lebenszyklus ausdrückt, hat sich geändert.
Die Quantität der Vernichtungsapparate und Kriegsorgien hat in gleichem Ausmaß meine Sprachlosigkeit bis zur völligen Ignoranz demgegenüber ansteigen lassen: Ein Mehr von beiden ist nicht mehr möglich. Meine Existenz auf diesem Planeten war vor einigen Jahrzehnten noch eine Frage der Entwicklung, heute bin ich nur noch eine Frage der Zeit.
Die Zukunft ist vorbei und die Vergangenheit dringt als Hohngelächter in meine Gegenwart. (S. 111f.)
© 1999, Triton, Wien.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.