Track 1-9: Köln 2001/02 Sprecher: Gerhard Rühm
Track 10: Berlin 1971, Stimme, Klavier, Cembalo: Gerhard Rühm, Stimme: Inga Artmann
Spielzeit: 70 Min.
ISBN 3-932513-33-9
Köln: Supposé 2002
1958 wollte Gerhard Rühm einen Stempel anfertigen lassen: "konrad bayer & gerhard rühm - stets meisterwerke - das literarische wunderteam" - die Ausführung scheiterte am mangelnden Kleingeld. Ein exemplarischer Ausschnitt dieser spezifischen Zusammenarbeit innerhalb des Freundeskreises der "Wiener Gruppe" ist auf dieser CD zu hören - und zwar professionell; ruhig gelesen, ohne Scheu vor einem offenen, langsamen pace mit längeren Pausen, in einem angenehm gelassenen Ton ohne subjektiver Überhöhung, ohne bedeutungsschwanger zu modulieren und abstinent jeder Exaltation. Nicht nüchtern, aber ruhig und - einsam klingt diese Stimme, sehr einsam. Wer spricht?
Das Hörerlebnis dieser CD beginnt allerdings ganz anders, nämlich mit einem virtuosen Geprassel, einer wie im Stroboskop in Laute zerhackten Sprache, erst allmählich lösen sich Silben heraus, werden Wörter hörbar, Phrasen, schließlich Satzzusammenhänge, bis sich die Sache in einem großen Decrescendo beruhigt und nach allen Kaskaden wieder in die Vereinigung seiner ursprünglichen Bestandteile mündet, zurückfindet in sein grammatisches Bett: "ich gab ihm einen bissen brot und liess es ihn essen darüber liesse sich viel sagen."
Dass eben nichts gesagt wird und stattdessen permutiert, durchbrochen, unterhöhlt, um solcherart etwas zur Sprache kommen zu lassen, was sonst nicht mehr in ihr sichtbar oder hörbar war, das war eine Spezialität der Wiener Gruppe. Ihre Methoden werden, auch wenn es sich um eine Gemeinschaftsarbeit bloß zweier ihrer Mitglieder handelt, auf dieser CD anschaulich und exemplarisch durchlaufen: Von der Permutation im ersten Track über Montageverfahren mit ironischer Sinnbrechung im zweiten, Variation von Sprachregeln, die wie Denkaufgaben oder Anleitungen zu einem imaginären Spiel zu lesen auf Track 3, darauf Montage von filmisch trivialen Dialogsätzen im "kriminalstück", eine Schimpforgie lustvoller Übertretung mit ihrer Steigerung in fäkalordinäre Tabubrüche in Track 5 (die eigentlich auf eine grundlegende Demokratisierung des Menschen hinzielen, indem dieser mal auf eine prinzipielle physische Grundkonstellation hin gesehen wird), drei Phasen expressionistisch-lyrisches Durchlaufen heroischer Klischeesätze in Track 6, im darauf folgenden langen "kyselack"-Text werden u.a. biblische Formeln unterlaufen (ähnliches findet sich in R.P. Grubers "Hödelmoser"-Text) und mit der hier erstmals angewendeten Methode der Einzelsatz-Erzählung zeigt sich dieser Text spannenderweise als Vorläufer von Bayers "der kopf des vitus bering" oder seinem nachgelassenen Roman "der "sechste sinn". Durchlaufen mathematischer Zahlenreihen auf Track 8 und ein amüsant-redundantes Gegeneinanderschneiden von sprachlicher Banalität mit Chopinscher Großartigkeit in der Klavierbegleitung leiten in Track 9 über zur Operette "der schweissfuss" - einem halbstündigen Nonsens zwischen Kabarett und Slapstick-Komödie mit die Handlung erklärenden Zwischentexten, die an die Untertitel des Stummfilms erinnern.
Parallel zur Entwicklung der Wiener Gruppe geht hier die Spracharbeit über ins "literarische cabaret", vom Experimentellen in die Selbst-Enthebelung der Sprache und damit aber auch in deren Selbstauflösung. Man sieht, woher ein Jandl oder Hell oder eine Brigitta Falkner arbeiten, in welchem Kontext ihre Faszination zu sehen ist. Unglaublich, wie frisch und erfrischend diese Texte mehr als ein halbes Jahrhundert nach ihrer Entstehung sind.
Was zum Kabarett nicht passt, aber was diese Aufnahme wirklich gut herausbringt, ist die überraschende Erfahrung, dass in diesen Nonsens-Texten und offensichtlichen Sprachzerstörungen aber re-auratisiert wird. Das ist ein eigenartiges und faszinierendes Phänomen und hat wohl, wie ich meine, im Textlichen mit Bayer mehr zu tun als mit Rühm: Sieht man Texte wie Bayers "der sechsten sinn" an, dann sieht man, wie hier die Metaphysik mit der Naturwissenschaft wieder eingeführt wird, quasi hinter ihr lauert. Die Nicht-Erklärbarkeit des Subjektiven wird hier gerade mit den Verfahren der Naturwissenschaft exemplifiziert, ein Paradox, das die Diskrepanz und den Auseinanderfall von gefühlter Welt und erklärter Welt umso deutlicher macht und auf eine sprachlich nicht mehr lösbare Unvereinbarkeits-Ebene treibt.
Bayer war insofern der Alban Berg der Wiener Gruppe: Konsequent im Verfahren, aber gerade im methodischen Einsatz und in der Rationalisierung bricht ein romantisches Gefühl durch, wird eine mythisch-magische Komponente sichtbar, die letztlich aufhebt, was an Unterscheidungen getroffen ist. Aus dem Silben- und Wortgeprassel wird ein Satz. Und dieser Satz, in seiner Schlichtheit wie ein auratisches, rätselhaftes Unikat, verhängt sich und klingt als Welt-Topos nach wie in dem in Track 1 zerhackten, uneinlösbaren Satz: "ich gab ihm einen bissen brot und liess es ihn essen darüber liesse sich viel sagen."
Der den Text kongenial Vortragende: Gerhard Rühm. Sein bester Interpret am Klavier: auch Gerhard Rühm. Spannend auch, dass die Aufnahmen von Track 1-9 und Track 10 drei Jahrzehnte auseinander liegen - in der Stimme von Gerhard Rühm ist davon nichts merkbar, beides klingt gleichermaßen gegenwärtig und professionell.
Originalbeitrag
Martin Kubaczek
5. Juni 2003