Lesung mit Elias Canetti
3 CDs
Spieldauer 239 Min.
ISBN 3-455-32017-1
Hamburg: Hoffmann und Campe, 2003
Jahrzehntelang hat Elias Canetti an "Masse und Macht" gearbeitet, 1960 ist der wahrscheinlich umfangreichste Essay der deutschen Literaturgeschichte erstmals in Deutschland erschienen und hat den bis dahin nahezu vergessenen Autor der "Blendung" zu einem gefragten Autor und Gesprächspartner gemacht, der selbst mit Theodor W. Adorno seine Theorien im Rundfunk diskutierte. Es muss allerdings schon vor der Fertigstellung der Studie eine gewisse öffentliche Aufmerksamkeit gegeben haben - zumindest hat der Norddeutsche Rundfunk unter Umständen, die das knappe Booklet verschweigt, 1959 eine von Canetti gelesene nahezu vierstündige Auswahl aus dem Text aufgenommen und wohl auch in irgendeiner Form gesendet.
Canetti hat "Masse und Macht" in elf Teile und einen Epilog gegliedert. Hat er sich bei der Aufgabe, aus den nahezu 600 Seiten weniger als ein Zehntel auszuwählen bewusst und absichtsvoll weitgehend auf den definitorischen Teil der ersten beiden Teile, "Die Masse" und "Die Meute" konzentriert? In jedem Fall: Die ethnologischen, historischen und psychologischen Beispielteile zu "Meute und Religion", "Masse und Geschichte" und die "Eingeweide der Macht" fehlen mit einer kleinen Ausnahme, das wichtige Kapitel über den "Überlebenden" wird nur angespielt und endet mit der "Rettung des Flavius Josephus". Die Auswahl folgt damit etwa der ersten Hälfte des Buches, wichtige Teile wie der für die bundesrepublikanische Nachkriegsgesellschaft interessante über den Befehl, die Verwandlung oder die Paranoia der Herrschenden fehlen und das ist eigenartig. War geplant, das gesamte Werk vorzustellen und wurde dieses Projekt abgebrochen; sind Bänder verloren gegangen oder war der zweite Teil der Studie noch nicht druckreif? Auch hier schweigt das Booklet, das zwar "Masse und Macht" für die Faschismusforschung reklamiert, aber nicht erklärt, warum jene Teile des Werkes, die dafür am aussagekräftigsten sind, in der Auswahl ausgespart sind.
Man kann davon ausgehen, dass Elias Canetti 1959 - von gelegentlichen Interviews abgesehen - noch keine großen Erfahrungen mit dem Medium Rundfunk hatte sammeln können. Dass er die vier einsamen Stunden in einem Studio des NDR sozusagen überlebte, ist eine große Leistung. Man hört kaum Brüche, Canetti war entweder ein derart erfahrener Vortragender des eigenen Textes oder aber er hat weitgehend in einem Zug gelesen, und zwar sehr schnell, ja gelegentlich gehetzt, und mit einer hohen Eindringlichkeit. "Masse und Macht" ist allerdings kein Text, der für den öffentlichen Vortrag geschrieben wurde und daher ist es, selbst wenn man Canettis Gedanken kennt, gelegentlich schwer, seiner Rede zu folgen.
Alfred Pfabigan
15. März 2004