Tragödie in einem Aufzug
Schauspiel und Opernfassung
3 CDs
Spieldauer: Schauspiel 56:40 Min.; Oper (2 CDs) 112:28 Min.
ISBN 3-934012-19-1
Neckargemünd, Wien: Edition Mnemosyne. Verlag für alte Hüte & Neue Medien 2004
"Elektra" war das erste Produkt der jahrzehntelangen Zusammenarbeit zwischen Hofmannsthal und Strauss, der wir den "Rosenkavalier", "Ariadne auf Naxos", "Die Frau ohne Schatten", "Die ägyptische Helena" und schließlich "Arabella" verdanken. "Elektra" war allerdings kein exklusiv als Libretto verfasster Text, sondern ein fertiges Theaterstück, das 1903 in Berlin von Max Reinhardt mit Gertrude Eysoldt in der Titelrolle erfolgreich aufgeführt worden war und auf das eine Inszenierung in der Berliner Schaubühne 1999 mit Edith Clever als Klytämnestra neuerlich aufmerksam machte. Dennoch "erdrückte" auch hier wie in anderen Fällen Straussens Musik den literarischen Eigenwert des Textes und sein philosophisches Anliegen, auf das Hofmannsthal immer wieder zurückgekommen ist. Den Konflikt zwischen Elektra und Chrysthemis, verstanden als einen zwischen "Vergessen" und "Nicht-Vergessen", zwischen "Beharren" und "sich wandeln", hat er etwa als einen existentiellen Grundkonflikt verstanden, er hat ihn in der Ariadne - im Verhältnis der Titelfigur zu Zerbinetta - fortgeführt und in seinen Notizen "Ad me ipsum" sich sogar zu der Notiz "Elektra-Hamlet" hinreißen lassen, woraus etwa Walter Jens die Berechtigung zog, Elektra als "Hamlets Schwester" zu bezeichnen.
Im Zeitgeist lag Hofmannsthals Sophokles-Adaption auch insofern, weil - so Hartmut Reinhardt in einem Aufsatz in dem opulent illustrierten Booklet - das Stück zu der seit Nietzsches "Geburt der Tragödie" für die Moderne wesentlichen Neuentdeckung der "wilden Antike" gehörte, welche die Schreckenswelt des Dionysischen herausstrich, die hinter dem schönen Schein der apollinischen Ordnung liegt. Und dieser Aspekt war es wohl, der Richard Strauss, ursprünglich auf der Jagd nach einem "wilden" Renaissancestoff, an dem Stück interessierte und den er mit seiner expressiv-heroischen Musik ausdrückte - nicht unumstritten allerdings: Heinz Politzer etwa meinte, Strauss sei an Elektras barbarisch-dekadentem Tanz gescheitert und es hätte der kompositorischen Mittel Strawinskys bedurft, um dieses "archaische Skandalon", das gleichzeitig eine "endgültige Entblößung einer modernen Seele" sei, zu vertonen.
Die Kassette der Edition Mnemosyne enthält zwei Studioproduktionen aus den fünfziger Jahren. In der Hofmannsthal-Aufführung des Südwestfunks aus 1959 hören wir unter der Regie von Hans Schweikart und Werner Schlechte Maria Becker (als Emigrantin Mitglied des Ensembles des Zürcher Schauspielhauses) als Elektra und Maria Wimmer als Klytämnestra. Die beiden galten zu jener Zeit als Ausnahmeschauspielerinnen des deutschen Theaters, die Berichte über ihre überwältigende Bühnenpräsenz stellen klar, dass eine Tonaufnahme nur einen kleinen Ausschnitt ihres Talentes dokumentieren kann - gerade bei einem Stück wie der "Elektra". Die Inszenierung ist stilistisch aus heutiger Sicht heterogen: Becker und Wimmer agieren stellenweise ostentativ dramatisch, insgesamt dominiert aber eine klare, präzise und äußerst sachliche Atmosphäre, in der nur wenige der später ästhetisch kodifizierten Erkennungszeichen von "Wien der Jahrhundertwende" zum Einsatz kamen. Die zahlreichen heute kolportierten Erklärungen der Figur der Elektra - von dem nach ihr benannten, von C. G. Jung erfundenen Komplex, dem Parallelphänomen zum Ödipuskomplex bis zu der Behauptung, Hofmannsthal illustriere auch hier Freuds "Studien zur Hysterie" - sind in das Regiekonzept nicht eingeflossen.
Es ist ein Glücksfall, dass Wolfgang Matthias Schwiedrzik, der Herausgeber der Kassette, sozusagen das Pendant zu diesem repräsentativen Dokument der Radio-Kultur der fünfziger-Jahre fand: eine Studio-Einspielung der Strausschen Elektra aus 1953, aufgenommen vom Hessischen Rundfunk in der Musikhochschule Frankfurt. Die Aufnahme mit dem Sinfonieorchester des hessischen Rundfunks unter Kurt Schröder griff (mit Ausnahme von Margarete Klose als Klytämnestra) auf die Sänger der erfolgreichen Münchner Aufführung aus dem Jahr 1952 zurück. Inge Borkh (auch sie eine aus rassischen Gründen Vertriebene) gab die Elektra, Annelies Kupper die Chrysothemis, Ferdinand Frantz den Orest, Heinrich Bensing den Aegist und die junge Christa Ludwig eine der Mägde. Das war - nach damaligen Kriterien - eine traumhafte Besetzung und vor allem Inge Borkh hat zu jener Zeit Maßstäbe gesetzt und galt als Deutschlands beste Elektra. Vor allem in ihren Konfrontationen mit Margarete Klose findet "große Oper" statt. Beide Aufnahmen haben eine ausgezeichnete Tonqualität und bieten zumindest auf akustischer Ebene die Möglichkeit eines schönen Vergleichs zwischen dem Schauspiel und der Oper.
Alfred Pfabigan
14. September 2004