Aufzeichnungen November 1987 bis Juli 1990
Gelesen vom Autor
Dichte[r]Texte
NDR Audio
4 CDs
Spielzeit: ca 300 Min.
ISBN 978-3-455-30480-0
Hamburg: Hoffmann und Campe, 2006
"Gestern unterwegs" enthält eine Auswahl von Notaten aus Handkes Reisenotizbüchern der Jahre 1987 bis 1990, danach beendete er diese Form des Führens von Journalen. In diesem Zeitraum entstand eine Vielzahl von Publikationen - man findet deren Rohform und Ausgangspunkte hier in vielen Absätzen wieder. Die als "Versuche" publizierten Texte gehören dazu, der Theatertext "Das Spiel vom Fragen", vor allem aber die beiden großen Werke "Mein Jahr in der Niemandsbucht" und "Der Bildverlust". Es ist ein Glücksfall, dass Handke diese Aufzeichnungen liest - und nicht etwa die "Niemandsbucht" -, sie sind der intimere Text, das noch Suchende, wo der Moment noch nicht einem größeren Konzept im Romanganzen dient, nicht Beleg ist für eine Idee oder Ideologie, sondern einfach für sich steht und hingestellt ist, ganz augenblicksabhängig.
Handke liest mit ein wenig heiser-kehliger Stimme, und man muss sich hereinholen lassen in diese langsame, fast schleppende Lebens- und Leseweise, die auf ihrem Zögern und ihrer Verzögerung beharrt: "Manchmal/ erscheinen mir alle Schreibenden als Linkshänder und so/ liebenswert." Ändert sich der Ton, oder täusche ich mich? Die zweite CD liest er anders - strenger vielleicht, wie vor einer Volksschulklasse leicht abwesend, pflichtmäßig und definitiv schneller als zuvor, mit mehr Distanz. Einmal wiederholt er einen Ausdruck, der ihm gefällt, wie bestätigend: "Freund, abendlich" - und noch einmal, mit anderer Betonung, nachlauschend: "Freund, abendlich". Das sind schöne Momente, die man vor allem versteht, wenn man "Gestern unterwegs" bei der Hand hat und mitliest - was nicht immer leicht ist, weil Handke oft mehrere Seiten überspringt, aber nur so wird die Aufnahme als eine Lesung erlebbar, die der Autor dem Hörer anbietet und schenkt: "Ein (möglicher) Liebesantrag: 'Laß uns gemeinsam lesen!' "(Das "möglicher" fügt Handke erst beim Lesen hinzu; CD 3, Track 3.)
Was überspringt er dabei, was lässt er weg? - Da ist zuerst einmal das Tagespolitische, nur eines der Medien-Ereignisse aus diesem Zeitraum kommt vor, es wurde mittlerweile Teil der Terror-Geschichte: Der Flugzeugabsturz von Lockerbie in Schottland; es war die Maschine, mit der Handke aus Frankfurt kommend bei der Zwischenlandung in London ausgestiegen war. Ausgespart sind auch die vielen Notate zu Handkes Lektüren und zur Kunstrezeption (Poussin, Cezanne, Tschechow, Wittgenstein, Epiktet etc.); ebenso lässt er die schärferen, aggressiveren Ausdrücke fort ("Warum wird nicht auch ein Idiot Präsident?", Buch S.180), und konzentriert sich stattdessen vor allem auf die poetologischen Formulierungsversuche und Wahrnehmungseindrücke und macht sich, wie zuvor im Geografischen, nun auf die Reise durch den eigenen Text, um jenen Kongruenzmomenten nachzuspüren, in denen Sprache und Eindruck sinnesgleich zu sein scheinen, das sprachliche Evokativ mit den empfangenen Sinneseindrücken korrespondiert.
Hier sieht er das Alltägliche als das Heilige, Unfassbare. Nicht das Sakrale wird bei Handke profanisiert, sondern umgekehrt das Profane oft geradezu sakralisiert, erhoben in den Zustand der Berückung und Bezauberung. Handke hat dabei manchmal durchaus etwas Priesterliches "in der mürrischen Leere des Sonntag abends". Aber da ist auch etwas Verbindliches in seiner Stimme, auch eine Scheu vor dem Aussprechen, die es schön macht, manchmal spricht auch einfach nur ein einfacher, alter, privater Mann, und hin und wieder hat seine Stimme etwas verschmitzt Jugendliches und Heiteres.
"Wenn immer du jemand bekümmert Wirkenden, Abwesenden, ja fast Unseligen erblickst, bedenke, das ist vielleicht einer, der auf Schönheit aus ist, von Grund auf auf Schönheit aus, in der er unversehens erstrahlen wird." - Das hat etwas Biblisches, aber gelesen in Bescheidenheit, nicht als Liturgie. Und hier zeigt sich: Was in der Lektüre als Pathos erscheint, wird in der Stimme ein schützender Ton, mit einer Wehmut und Zurücknahme vorgetragen, die sich, bei aller Entblößung und Intimität der Teilnahme und Teilhabe, nicht preisgibt. Da spricht einer, wie unsichtbar für jene, die er beschreibt: "Der Augenblickdenker - nur das bin ich"; müde, vielleicht vom Unverständnis: "Schreiben - es geht nicht ohne Glanz"; einer, der die Sehnsucht will, nicht die Erfüllung: "Poesie ist zum Beispiel: beteiligt denken". Vielleicht eine gewisse Eitelkeit, Starrsinnigkeit, ein gewisser Stolz. Und einer, dem sein Schreiben und Feststellen über alles geht: "Reiche Stille, las ich gerade bei Hölderlin"; und dann das Grauen, das ihm im slowenischen Schnellzug angesichts eines Plakatspruchs für einen österreichischen Wintersportort überfällt: "... durch Schneekanonen schneesicher". Sicher durch Kanonen.
Manchmal lacht er leicht über sich selbst beim Lesen, spricht zur Seite, hin und wieder eine Anmerkung, Relativierung beim (Wieder-) Lesen des vor bald zwanzig Jahren Notierten: "Naja, denke ich jetzt" (CD 2, Track 7), relativiert er das eben Gelesene; "So is' es, ja / Da fehlt was", flüstert er ein andermal hinzu. (CD 2, Track 9). Auf der dritten CD nimmt das deutlich zu, Handke überlegt laut, spricht freundlich zu den französischen Ausdrücken die deutschen Bedeutung hinzu, ergänzt Ortsangaben ("Mylei - das ist in Griechenland"; CD 3, Track 2). Schade nur die sinnentstellenden Lesungen vieler japanischer Ortsnamen: Ho-kai-do setzt sich zusammen aus den Schriftzeichen für Nord-See-Weg, aber wenn es Handke als Hoka-ido ausspricht, macht er daraus einen Anders-Brunnen. Wer, wenn nicht Handke, könnte sich hier einen kleinen Advisor leisten, der ihm die richtige Leseweise beibringt, bevor er sie falsch aufnimmt? Eigenartig, wenn ein Aussprachefehler dann sogar mit einem trivialen englischen Wort passiert - oder liegt da gar eine Intention dahinter? - "Jewel Lake" spricht er als "you-well lake".
Die vier CDs geben den (vor allem im zweiten Teil stark) gekürzten Text wieder, zunehmend kommentiert Handke, sinnt nach über das eben Gesagte, macht kleine Vorbemerkungen, Erläuterungen, fügt Füllvokabel ein, Konjunktionen, harmonisiert durch addierende oder konstatierende "und:", "und dann:" Er nimmt damit den Ausdrücken das Unvermittelte, Schroffe oder Sperrige, versucht die Formulierungen zugänglicher zu machen, persönlicher und verbindlicher, versucht zu vermitteln. Dabei finden sich in der Folge äußerst wesentliche Anmerkungen des Autors, wie etwa diese vor sich hin gesprochene Selbst-Beobachtung: "Da gehe ich zum ersten Mal über in das 'Er' - auch ein seltsamer Moment, wenn man auf Reisen nicht mehr 'ich' sagen kann, sondern 'er-zählt'" (CD 3, Track 5; darauf folgt der Absatz vom Fluß Vienne in Nordfrankreich, im Buch S. 287)
Man mag zu Handke stehen, wie man will: Ich finde es wunderbar zu hören, wie sich die Stimme relativiert, zurücknimmt, grüblerisch bleibt oder fragend, die Ehrfurcht vor dem Wort spüren lässt und die Achtung, die er den Dingen entgegenbringen will. Nicht immer gelingt es, er weiß es, reflektiert seine Unbeherrschtheit, freut sich und ist dankbar für das Kleinste im großen Detail. Neben dem hohen Anspruch stehen dann Demutsgesten; wunderbar, wie er da von sich ab und hinaus weist auf die Unerreichbarkeit, wenn er liest, leise, aber mit großer Insistenz:
"Das allerschönste Werk, bestehend aus Nichts, und aus wieder Nichts und noch einmal aus Nichts, und dem menschlichen Atem, dem Licht, den Tagen und den Nächten, dieses allerschönste Werk, das hat die Menschheit noch nicht geschaffen."
Martin Kubaczek
11. Dezember 2006
Originalbeitrag
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