Sprecher: Ernst Jandl
Orgel: Martin Haselböck
Ensemble kreativ
Spielzeit: ca 56 Min.
ISBN 3-902123-27-3
Preiser Records 2000
Was Wien, was Österreich an originären Versatzstücken in den Köpfen seiner herausragendsten kreativen Gestalten so ablagert, zumindest in denen der - nennen wir sie einmal so - Prä-Beat-Generation (Artmann, Jandl, Qualtinger, Heller, Brauer usw.), kann einem, wenn das Ideenmaterial einmal im Kreativkopf zur "dominierenden Atmosphäre" geronnen ist, leicht als "böse" erscheinen, als "über Gebühr zynisch". Die Feststellung, das gemeinsame Feld jener Poeten (unbeschadet eines je "eigenen Spielfeldes" zum Ausgleich) bestünde in einer ganzen Welt der Poetisierung banalen Leidens und alltäglicher Grausamkeiten, ist weder neu noch übermäßig aufschlußreich. Insbesondere bei Ernst Jandl aber, dort, wo er ganz zu sich kam, spürt man die notwendige Verkettung dieser österreichischen Alptraum-Perspektive mit den formalrevolutionären Ansätzen seiner und der direkt folgenden Generation. Es ist, als hätte der hegelsche Weltgeist ein bisschen tricksen und dem österreichischen Nachkriegsmief einen echt literarischen Stellenwert zuweisen müssen, um auch hierzulande eine historisch wohlverankerte Modernde in Gang zu bekommen. Wem diese Metapher zu hinken scheint (was nicht ganz unverständlich wäre), dem sei zum besseren Verständnis "weltgebräuche" anempfohlen, eine Aufnahme des legendären Programms, das der Organist Martin Haselböck, der Trompeter Rudolf Josel und Ernst Jandl erstmals 1983 und zuletzt in Jandls Todesjahr 2000 aufführten. Denn hier kommt Jandls Lyrik, die ja bekanntermaßen auf Lautlichkeit angelegt ist, tatsächlich ganz zu sich.
Ursprünglich aus rein improvisierter Musik rund um eine "best-of"-Auswahl der Jandl-Werke bestehend, nahm "weltgebräuche" im Laufe der Zeit zusehends durchkomponierten Charakter an, ohne dabei ganz auf die Spontaneität der musikalischen Improvisation zu verzichten. Da die vorliegende Aufnahme erst 1991 entstand (nämlich am 3. und 4. Oktober im großen Saal des Radio-Kulturhauses in Wien), ist schwer zu entscheiden, ob die Fixierung der Gemeinschaftsarbeit gut getan hat, was jedoch nichts daran ändert, dass sie so, wie sie da aufgezeichnet ist, mit Fug und Recht als Muß für Jandelkenner und Freunde experimenteller Musik gleichermaßen bezeichnet werden kann.
Die Grenzbereiche von syntaktischem Sinn werden da betreten, mit Blickrichtung auf das Land der befreiten Laute, die Sicht (besser: das Gehör) wird geschärft für die feinen Netze "inhaltlicher" Natur, die selbst scheinbar sinnentleerte Lautkombinationen haben, und andersherum, für den magischen Charakter, den Sätze der normalen Rede allein kraft ihrer Lautlichkeit annehmen können. Annehmen können? - Nein, den sie immer haben, auf den unsere Abstraktionsfähigkeit uns aber im Alltag den Blick verstellt, ein Vorgang, den Jandls Arbeit aufzuheben trachtete, ohne die Abstraktionsleistung zu zerstören. An dieser Stelle mag verständlich werden, wieso es trotz der Überwindung des Geniebegriffs (die sich schön langsam ja wohl herumgesprochen hat) noch Leute gibt, die vom "Dichterpriester" sprechen: Die Fundamente einer Geisteslandschaft werden von Jandl freigelegt, die einer Rückversicherung sprachlich konstituierter Identität im nicht mehr ganz so sprachlichen Element des Ur-Sinns der Laute keine Hindernisse in den Weg stellt. Natürlich nur, wenn es diese Rückversicherung (re-ligio) ist, auf die einer aus ist beim Jandl-Text-Konsum. Denn auf der anderen Seite steht die Tatsache, daß sich der Sinn der einen korrekten Zeichenordnung immer neu - id est, in uns - dem Chaos der Lautgeflechte entringt. Jandl macht diesen Prozess einfach wahrnehmbar, indem er ihm seine Selbverständlichkeit nimmt. Die möglichen Schlüsse, die sich aus solcher Wahrnehmung ergeben, stehen auf einem anderen Blatt, und es ist nur zu mutmaßen, ob dieser Bereich Jandl selbst überhaupt interessiert hat.
Der rezitative Lesestil des Meisters passt sich dem musikalischem Primat gekonnt an, unter dem er seine Gebilde zur Entfaltung bringt, und gegengleich nimmt Martin Haselböck viele der rein musikalischen Möglichkeiten stark zurück, die ihm sein Instrument zu bieten hätte. Es ist fast, als "spräche" die Orgel im Sinne der selben Unterscheidung, die wir bei der menschlichen Stimme zwischen Rede und Gesang gewohnt sind. Da, wo es besonderer Hervorhebungen braucht, "Definitionen" für die Funktion einzelner Stellen im Fluß der Klänge und präzise angedeuteten Geschichten, da schaltet sich Rudolf Josels Trompete ein und weist ihn als fähigen und konzentrierten "Handwerker" aus, der genau weiß, was er zu tun hat und der nie mehr tut, als nötig und gut ist, mit anderen Worten, der das schillernde Klangspektrum seines Instruments nie so einsetzt, daß es einen vom Vortrag Jandls ablenken würde.
Jandls "Lieder für Sänger und Schlagwerk", die auf der CD ebenfalls vertreten sind, live aufgenommen im August 2000 in der Konradkirche Oberwang von Rupert Bergmann und dem Ensemble Kreativ, bilden einen percussiv-melodischen Kontrapunkt zu den "weltgebräuchen" insoferne sie nicht, wie diese, "Forschungsarbeit" in Grenzgebieten leisten, sondern Interpretation im besten Sinne betreiben. Man merkt den Liedern ihre Komponiertheit an, die Durchdachtheit von der Warte des stillen Komponistenkämmerleins aus, die sog. "klassischer" Musik eigen ist, man merkt, kurz gesagt, daß sie aus Analyse geboren wurden, nicht aus Improvisation. Dadurch, daß sie am Schluß stehen, schaffen sie trotz ihrer Minderheit gegenüber den Texten der "weltgebräuche" (von knapp 56 Minuten entfallen auf sie 9, von 34 Tracks nur 6), diesen einen bestimmten Stellenwert zuzuweisen, den Blick auf das weite Feld zu relativieren, das diese aufgetan haben, indem sie dem abstrakten Gedanken wieder zum alleinigen Recht auf Sinnschöpfung verhelfen, das man als Hörer der weltgebräuche ihm zu entringen die Möglichkeit hatte. Auch wenn sie "inhaltlich", stilistisch und autorenbezogen durchaus zueinander gehören, halte ich daher die Aneinanderreihung der beiden Textkörper, wie sie hier geschehen ist, für zumindest problematisch. Da es aber zum Glück keine Gesetze gibt, die uns als Hörer zwingen, eine CD nur ganz oder nur von Track 1 an zu hören, schlage ich vor, den Inhalt der CD wie zwei getrennte Tonträger zu behandeln.
Einige schöne Geschichten finden sich auf der CD (die Texte der Auswahl rekrutieren sich aus "laut und luise", "dingfest", "die bearbeitung der mütze" und "sprechblasen"), schön respektlos und schön schaurig zum Teil, in einem zwischen Grabesstimme und ekstatischem Überschlag schwankenden Tonfall gehalten und immer - immer - genau angemessen. ANHÖREN!
Originalbeitrag
Stefan Schmitzer
6. Mai 2002