Gelesen von Peter Simonischek
5 CDs, 350 Min.
ISBN: 978-3-89903-406-6
Hamburg: Hörbuch Hamburg, 2007
Leo Perutz' 1923 erstmals erschienener Roman Der Meister des Jüngsten Tages kann zu den Klassikern der Kriminalliteratur gezählt werden. Wobei hier schon das erste Fragezeichen gesetzt werden müsste, denn: Handelt es sich bei Perutz' Text überhaupt um einen Kriminalroman? Oder könnte man nicht ebenso gut von einem psychologischen Roman, einem Schauerroman, einem Künstlerroman, einem magisch (oder phantastisch) realistischen Roman usw. sprechen? Ohne diese Frage endgültig klären zu wollen, genügt es, an dieser Stelle festzustellen, dass Perutz' Text Elemente aller genannten Gattungen (und noch anderer mehr) aufweist und diese auf elegante Weise ineinanderübergehen lässt. Für den Rezipienten unter Umständen interessanter ist das Verhältnis von Realität und Fiktion, von Möglichem und Unmöglichem, das bei Perutz wie im Mythos häufig opak bleibt. Es geht in vielen seiner Texte, wie beispielsweise auch in Nachts unter der steinernen Brücke, nicht nur darum, den Leser zu verwirren - das aber auch - , sondern um die Destabilisierung der Grenzen der normierten Weltwahrnehmung. Es ist ein unentschiedenes Spiel zwischen dem Realen und dem Imaginären, bei dem das Symbolische gewinnt: Alles scheint in dieser Literatur möglich, alles kann aber auch durch ein Nachwort, einen Perspektivenwechsel oder ein neues Indiz wieder kippen. Bestand hat einzig die den Akteuren und Dingen eingeschriebene Symbolwirkung.
Der kongeniale Partner von Perutz in diesem erzähltechnischen Verwirrspiel ist Peter Simonischek. Wie der Burgschauspieler die Erzählung von einer Selbstmord-Serie im Wien des Jahres 1909 interpretiert, ist großartig. Nicht durch Überbetonung, sondern durch Understatement lehrt Simonischek den Hörer das Grauen. Dem seltsamen Gefühlsleben des Freiherrn von Yosch folgend, der über weite Strecken des Romans als (unzuverlässiger) Erzähler fungiert, geht der Schauspieler nur in wenigen Passagen aus sich heraus. Dann allerdings stockt dem Hörer das Herz, wie zum Beispiel in jener Szene, als der Freiherr langsam aus einer entsetzlichen Vision in die Romanrealität zurückkehrt und Simonischek dem Augenblick eine "unheimliche" Intensität zu verleihen versteht. Hier überträgt sich die Identifikation des Vortragenden mit dem Ich-Erzähler vollständig auf den Hörer und löst nahezu körperliche Beklemmung aus.
Eines der Hauptthemen des Romans steht übrigens in engem Zusammenhang mit den besonderen Anforderungen des Schauspielerberufs, sollte also auch persönliches Interesse bei Peter Simonischek hervorgerufen haben. Denn das Motiv hinter den Selbstmorden ist der Wunsch nach schöpferischer Energie, nach künstlerischer Kraft. Deshalb wird auch der erste vom Erzähler persönlich miterlebte Selbstmord von einem Schauspieler verübt, der kurz vor der Tat als seinen größten Mangel das Fehlen genuinen Vorstellungsvermögens, die Unfähigkeit zur Evokation eigener Bild-Welten bezeichnet. So interferiert auch der Text mit der Hörbuchversion, denn es ist genau das, was Simonischek gelingt: Er lässt vor dem inneren Auge des Hörers einen Film mit genau getroffenen Farb-Tönen ablaufen und erzeugt ein nuancenreiches Bild von Figuren, Schauplätzen und Ereignissen. Sein Vortrag nimmt nichts vorweg, jede neue Wendung trifft den Hörer unvermittelt. Simonischek hat die von Perutz mit seinem unzuverlässigen Erzähler von Yosch verfolgte Strategie erkannt, erweckt sowohl Misstrauen als auch Sympathie beim Rezipienten, der schließlich auch dem vorgeblich für Klarheit sorgenden "Schlußwort des Herausgebers" keinen rechten Glauben mehr schenken mag.
Die Hörbuchversion von Der Meister des Jüngsten Tages vermag in allen Belangen zu überzeugen: Zu einem großartigen Text gesellt sich ein hervorragender Schauspieler, der nicht nur einzelne Figuren präzise porträtieren kann, sondern auch ein tieferes Verständnis für Komposition, Motiv- und Symbolstruktur des Romans aufzubringen vermag. Die Subtilität und Hintergründigkeit des Vortrags passen sich genau den Anforderungen des Textes an, nicht das vorschnelle Ausnützen von Effekten, sondern das Ausarbeiten einer komplexen Ästhetik des Grauens stehen im Vordergrund. Die Verleihung des deutschen Hörbuchpreises 2008 an Peter Simonischek in der Kategorie "Bester Interpret" vermag angesichts der gebotenen Qualität kaum zu überraschen - der Entscheidung der Jury kann nur beigepflichtet werden.
Gerald Lind
12. März 2008
Originalbeitrag
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