Gelesen von Hermann Beil, Claus Peymann und Christoph Ransmayr
Live-Mitschnitt einer Lesung im Radio Kultur Haus in Wien vom 29.2.2004
Edition Radio Literatur ORF
Spielzeit: 75,50 Minuten
ISBN: 3 901846 52 2
Wien: ORF 2004
Das von Ö1 herausgegebene Hörbuch dokumentiert eine Lesung von Christoph Ransmayr im RadioKulturHaus im Februar 2004. Es werden fünf ausgewählte Texte aus seinem 2003 im S. Fischer Verlag erschienen Erzählband "Die Verbeugung des Riesen" gelesen. Die CD enthält Geschichten, die für bestimmte Anlässe, wie Preisverleihungen oder Ehrungen für Freunde und Wegbegleiter des Autors, verfasst worden sind. Die Texte, in den Jahren 1995 bis 2000 entstanden, werden abwechselnd von Christoph Ransmayr, Hermann Beil und Claus Peymann vorgetragen.
"Die Verbeugung des Riesen" trägt den Untertitel "Vom Erzählen". Ransmayr gibt hier Einblick in seine Poetik und seine Auffassung der Möglichkeit des Erzählens. Ein Erzählen, das sich stets mit der Welt, der realen, wie auch fiktiven, auseinanderzusetzen hat. Die Lesung wird, anders als im Buch, mit "Die Erfindung der Welt", einer Rede zur Verleihung des Franz Kafka Preises 1995, eröffnet. Zu Beginn mit Sturmböen klanglich untermalt, führt der Text den Zuhörer mitten ins Geschehen. Ransmayr behandelt hier virtuos und auf das Wesentliche konzentriert die grundsätzlichen und oftmals widrigen Fragen des Erzählens.
"Was ist das - Dunkelheit? Und was bedeuten Angst, Trauer oder Hoffnung? Was ist ein Abschied?" Es sind diese existentiellen Fragen, so Ransmayr, die sich ein Erzähler zu stellen hat. Darüber hinaus muss er sich über scheinbar profane Dinge Gedanken machen, um seine Vorstellungen glaubwürdig und stimmig zu bebildern, um eine neue Welt zu kreieren.
Denn: "Wie tief ist ein Grab? Wie viele Sitze hat ein Kettenkarussell? Und diese heitere Barriere im Hintergrund - sind das Berge? Ein verschneites Gebirge? Wann begann es zu schneien?"
Ransmayr führt die Zuhörer gekonnt Stück für Stück entlang seiner Argumentationslinie. Beim Erzählen geht es dem Autor um das Erschaffen und um das individuelle Entscheiden für oder gegen eine Vielzahl an Möglichkeiten. Hat sich der Autor für diese eine, seine Welt entschieden, hat er seine Stimme gefunden.
Die Lesung "Die Verbeugung des Riesen" ist ein intelligenter, offener und unter anderem auch humoriger Einblick in den Schaffensprozess des Erzählens. Vor allem im Beitrag "Luftburgtheater", einer Laudatio für den vom Wiener Burgtheater scheidenden Direktor Claus Peymann, spart der Autor nicht an liebevoller Ironie. Ransmayr berichtet in einer fiktiven direkten Konfrontation mit Peymann von gemeinsamen Wanderungen. Bei diesen Unternehmungen werden Geschichten erzählt, der Westwind liefert dabei unnachahmbar rauschenden Beifall. "... nicht minutenlanger, sondern stundenlanger Applaus, Herr Direktor, Herr Theaterdirektor, Herr Burgtheaterdirektor, Herr Wiener Burgtheaterdirektor!, stundenlanger, nicht endenwollender Applaus ... Erinnern Sie sich?" Peymann und Ransmayr sind die Geschichtenerzähler und Regisseure im wahren großen Welttheater, umgeben von der Natur, die zur Kulisse ihres Schaffens wird.
"Und die vielen Verbeugungen? Auch die sollen nur vom Gewicht unserer Rucksäcke und der Steilheit des Anstiegs erzwungen worden sein? Aber Herr Direktor, ich bitte Sie! Erinnern Sie sich: Schauspiel am Schneeberg, Kleine Kulisse unter der Rax ... waren das keine Bühnen?"
In den Texten ist die Verbindung von Reisen und Poesie allgegenwärtig. Diese Erfahrung eröffnet dem Hörer eine neue Ebene des Textverständnisses. "Wir erkennen, dass unser Weg nicht bloß in die Fremde führt, sondern ins Innere der Welt, einer Sprache, die das Wirkliche und das Mögliche kennt", so Ransmayr in der Erzählung "Am See von Phoksundo".
So wie Geschichten im Gehen, in der Bewegung entstehen, haben sie in der Weiterdichtung, im Weitererzählen ihren Fortbestand. Auch die titelgebende Geschichte, "Die Verbeugung des Riesen", thematisiert dieses Weiterleben, die Lebendigkeit der Sprache und letztendlich die Bedeutung und das Gewicht des Erzählens für den einzelnen Hörer und den Autor.
"Die Verbeugung des Riesen" besticht in der Qualität der poetologischen Betrachtungen, die zum fixen Bestandteil der Geschichten werden und sich untrennbar mit ihnen vereinen.
Originalbeitrag
Julia Hamminger
20. Oktober 2005